Heidi / Jane Eyre

Es gibt zwei populäre Geschichten, die die Schweiz umschreiben und an welche die Bewohner*innen unseres Landes ebenso festhalten wie (nicht nur aber vor allem asiatische) Touristen: Wilhelm Tell, der die Schweiz zu Unabhängigkeit und Freiheit geführt haben soll – aber eher die Tat- und Schlagkraft vieler Eidgenossen seit 1291 in einer Person zusammenfassen soll – und Heidi, das kleine Mädchen mit den Zöpfen, Berge und Heimatgefühl umschreibend. Beides sind Sagengestalten oder fiktive Charaktere, die es nie gab. Zumindest nicht so, wie überliefert oder in den Büchern von Johanna Spyri erfunden. Das mag jetzt so manchen Schweizer*in oder Fan unseres Landes ins Mark treffen wie der güldene Schuss Tells den Apfel, doch wer mag, der kann sich gerne historisch kundtun; uninteressant ist es nicht. Sicher hingegen ist: Heidi gehört zu den am meisten verfilmten Schweizer Geschichten, im In- und Ausland.

Nebst den obigen so verbinden vier weitere Tatsachen beide hier vorgestellten Filme: Sie wurden ursprünglich fürs TV produziert, von Ominbus Productions erstellt, von Delbert Mann (MARTY, 1955; FITZWILLY, 1967) inszeniert und von John Williams musikalisch betreut. Beide Geschichten dürften bekannt, gelesen und/oder gesehen worden sein. In Europa erfuhr HEIDI gar eine Aufführung in den Kinos.

Zu HEIDI (1968) erschien eine LP und später dementsprechende CD mit Musik und Dialogen (uff!) sowie 1995 eine Bootleg CD (wieder mit Dialogen), ehe der Score nun ohne Störungen bei Quartet seine verdiente Aufmachung erfahren durfte. In Manns Version, die sich doch deutlich von Spyris Romanen unterscheidet, spielen Sir Michael Redgrave, Maximilian Schell und Jean Simmons, während die Titelrolle mit Jennifer Edwards, der Tochter von Regisseur Blake Edwards, besetzt wurde.

Williams schrieb einen Song für Jennifer Edwards, der von ihr onscreen gesungen wurde. Dieser wurde für die Capitol Records LP neu arrangiert, ebenso die Albumversion des Liebesthemas, nein, nicht für Heidi und Peter, Drehbuchautor Earl Hamner jr. sah hierfür eine Liebesbeziehung zwischen Herrn Sessemann und Fräulein Rottenmeier vor (was für eine Vorstellung!). 35 Minuten bleiben für den Score übrig, dessen Bänder im Archiv von Capitol gefunden wurden und damals als Stücke für die damalige LP mit den Sprachschnipseln selektiert worden waren. Der nun zu hörende Score, chronologisch präsentiert, darf als einer der schönsten Werke aus der Zeit, als Williams vor dem Sprung zu Grösserem stand, bezeichnet werden, voller thematischer Ideen (wobei insbesondere jenes für Heidi desöfteren zu hören ist, nebst einer Art Fanfare für die Schönheit der Schweizer Alpen) einem Scherzo, ebenfalls typisch für Williams (und in diesem Fall Heidi und Peter sowie die Geissen untermalend) und einem magischen Finale mit «Klara Walks». Die Musik wurde in Deutschland mit dem Orchester der Hamburger Oper eingespielt und John Williams gewann für seinen Score einen Emmy. Heidis Thema weist in seinen ersten Noten Ähnlichkeiten zu Jerry Goldsmiths «Carol Anne’s Theme» aus POLTERGEIST (1982) auf – interessanterweise war Goldsmith zunächst als Komponist von HEIDI vorgesehen.

Delbert Mann und Produzent Frederick H. Brogger liessen den Erfolg mit HEIDI, der gute Kritiken und erfolgreiche Einschaltquoten erreichte, mit weiteren Literaturverfilmungen für die kleine Flimmerkiste folgen: DAVID COPPERFIELD (1970, mit Sir Richard Attenborough) für den ebenfalls Williams den Score hätte beisteuern sollen, doch er war länger als geplant mit GOODBYE MR. CHIPS (1969) beschäftigt und schrieb den für einen Oscar® nominierten Score zu THE REIVERS (1969). Broggers nächste Produktion sollte die Verfilmung von Charlotte Brontës weltbekanntem Roman JANE EYRE (1970) werden, wieder mit Mann als Regisseurc – und John Williams hatte Zeit. Auch hier setzten Brogger und Mann mit George C. Scott, Susannah York, Ian Bannen und Jean Marsh auf einen starken Cast. John Williams begann zu jener Zeit in London seine Bearbeitung von FIDDLER ON THE ROOF (1971) aufzunhemen und konnte so mit seiner Ehefrau die Moorlandschaften und Schlösser besuchen, die ihm der Regisseur empfahl – und so Inspiration aufsaugen.

Im Vergleich mit HEIDI ist JANE EYRE wesentlich komplexer und es ist durchaus nachvollziehbar, dass diese leitmotivische Komposition zu einem persönlichen Favoriten vpn John Williams wurde, den er desöfteren auch an seinen Konzerten mit einer längeren Suite präsentierte. JANE EYRE ist elegant, tiefgehend, durchaus «britisch» angehaucht (wobei Williams selbst hier gerne tiefstapelt), angeführt von «The Love Theme from Jane Eyre» (ebenso das Album beginnend, während es in der sehr empfohlenen TV-Version zuerst während des Titelspanns («Overture (Main Title)») zu hören ist. Williams arbeitete für JANE EYRE hauptsächlich mit Streichern, Holzbläsern, Klavier und Cembalo sowie Orgel, Gitarre, Blockflöte und zurückhaltend Blechbläsern. Für Thornfield, so ich mich recht entsinne Rochesters Landgut, schrieb er ein eigenes Thema, das auch in den düsteren Momenten des Films Verwendung findet, ebenso vergibt er Rochester (gespielt von Scott) ein schwermütiges Motiv und einen glücklicheren musikalischen Halt für Janes Zeit in St. John Rivers, wohin sie sich nach der erschreckenden Entdeckung auf Thornfield zurückzieht.

JANE EYRE, mit dem Williams erneut einen Emmy gewann, erschien zunächst mit rund 38 Minuten bei Capitol Records und fand diverse Neuauflagen bei TER und Silva Screen. Inwieweit die Alternates des 2000er Bootlegs mit jenen dieser Quartet Version übereinstimmen, kann ich nicht eruieren, da ich Ersteres nicht besitze. Anhand der Laufzeiten jedenfalls gibt es deutliche Unterschiede (möglicherweise stammen die Bootleg-Alternates von Konzertaufnahmen oder einer Neueinspielung?). Ansonsten entspricht die Quartet Version der bekannten Albumversion (eben, abgesehen von den Alternates und eines Stücks source music).

Ein fabelhaftes 28 Seiten starkes Booklet mit Notes von John Takis begleitet diese Veröffentlichung von Quartet Records.

Und so geben diese beiden Musiken einen Einblick in das Talent und die Übergangszeit nach dem frühen TV- und Komödienschaffen und vor der Phase an darauf folgenden Kinofilmen wie THE COWBOYS (1972), IMAGES (1972) und THE SUGARLAND EXPRESS (1974) sowie die Zeit der Blockbuster wie THE TOWERING INFERNO (1974) und JAWS (1975). Der Rest ist, bekanntlich, Geschichte.

Phil  |  26.12.202

HEIDI / JANE EYRE
John Williams
Quartet Records
CD 1: 74:54 | 30 Tracks
CD 2: 44:13 | 15 Tracks