Am 20. Dezember 2019 veröffentlichte Netflix alle acht Episoden der ersten Staffel von THE WITCHER auf ihrem Streaming-Portal. Auch die deutschsprachige Fassung wurde zeitgleich veröffentlicht. THE WITCHER basiert auf der sogenannten «Geralt»-Saga, auch bekannt als die «Hexer»-Saga. Diese Saga wurde vom polnischen Fantasy-Autor Andrzej Sapkowski geschrieben und sie umfasst eine ganze Reihe von Büchern – eine eigentliche Pentalogie und vorgelagerte Kurzgeschichten. Die erste Staffel der Netflix-Produktion basiert vor allem auf einem der Kurzgeschichtenbänder sowie auf Teilen des ersten Bandes der Pentalogie. Anfangs war ein Kinofilm geplant, doch schnell wurde auf eine Serie umgeschwenkt, denn das Hexer-Universum bietet gemäss den Netflix-Produzenten viel Stoff. Und nachdem die 1. Staffel bei Kritikern und Fans auf reges Interesse gestossen ist, hat Netflix für 2021 bereits die 2. Staffel angekündigt. Für die Hauptrolle des Hexers Geralt von Riva konnten die Macher Henry Cavill begeistern. Die literarische Vorlage wurde vor der aufwändigen Netflix-Produktion bereits anderweitig adaptiert. Anfangs der 2000er Jahre gab es polnische Produktionen hierzu und 2007 bis 2015 erschienen drei «Witcher»-Videospiele, die international erfolgreich waren. Zudem wurden in den 1990er Jahren Comics rund um den Hexer publiziert.
Autor Sapkowski liess sich für seine Hexer-Erzählungen von mitteleuropäischen Märchen und slawischen Legenden inspirieren. Axel Weidemann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb zu THE WITCHER denn auch, dass die erste Staffel «in die hintersten Winkel der slawischen Sagenwelt» entführe. Diese kulturellen Wurzeln sollen hier deshalb erwähnt werden, weil sie auch das musikalische Porträt von Sonya Belousova und Giona Ostinelli charakterisieren. Instrumente wie das Duduk, verschiedene Dulcimers, die Talharpa, die Fidel, die Drehleier, Mandolinen und verschiedenste traditionelle Flöten prägen die Tonspur. Ich muss zugeben, dass mir das Duo Belousova und Ostinelli bis dato gänzlich unbekannt war. Dabei habe ich mit Interesse herausgefunden, dass Giona Ostinelli teils Schweizer Wurzeln hat. Ostinelli wurde im Tessin, in Vacallo nahe Mendrisio, geboren. Im zarten Alter von 5 bzw. 9 Jahren begann er auf Trommeln zu spielen und das Klavierspiel zu erlernen. Seine Ausbildung genoss er am Berklee College of Music und an der University of Southern California. Zudem war er ein Protegé von Alan Silvestri. Seit Anfang der 2010er Jahre vertont er Kurzfilme sowie TV- und Kinoproduktionen. 2012/13 schrieb er Musik für ein Stück am Moskauer Theater. Sonya Belousova wurde in Sankt Petersburg geboren. Sie begann 5-jährig mit dem Pianospiel und mit 10 Jahren schrieb sie ihre ersten Kompositionen. Internationale Bekanntheit erlangte sie mit dem YouTube-Kanal «Player Piano» (2013 gestartet als «Cosplay Piano»). Dort sind viele Videos von ihr zu finden, in denen sie auf dem Klavier berühmte Filmmusikmelodien neu interpretiert – darunter ein interessantes 10-minütiges STAR WARS-Medley. Ihre Ausbildung als Filmmusikkomponistin machte sie ebenfalls am Berklee College of Music und an der University of Southern California. Wahrscheinlich kreuzten sich die Wege von ihr mit jenen von Ostinelli bereits dort. Ganz sicher dann aber 2015 für die TV-Produktion THE MASSIVELY MIXED-UP MIDDLE SCHOOL MYSTERY, an der sie beide gearbeitete hatten. Dann folgten unter anderem die TV-Serie THE MIST (2019) für die Weinstein Company und Spike TV und nun für Netflix THE WITCHER.
Mit THE WITCHER erlangten die beiden endgültig eine internationale Bekanntheit. Seit die 1. Staffel ausgestrahlt wurde, wünschten sich die Fans auf zahlreichen Online-Foren eine Soundtrack-Veröffentlichung. Deren Gebete wurden von Milan Records per 24. Januar 2020 erhört, wobei es das über 180-minütige digitale Album bei iTunes sofort an die Spitze der Soundtrack-Charts schaffte. Per 10. Juni 2020 folgte von Sony Music eine physische 2-CD-Veröffentlichung mit über 140 Minuten Musik drauf. Für die 1. Staffel von THE WITCHER komponierten Sonya Belousova und Giona Ostinelli insgesamt über 8 Stunden Musik. Das physische Album wird hier rezensiert, nicht der digitale 3-Stünder.
Der Show-Stopper und der Hauptgrund für die lautstark geäusserten Wünsche der WITCHER-Fans nach einer Soundtrack-Veröffentlichung war/ist definitiv der Song «Toss a Coin to Your Witcher», gesungen von Joey Batey, der in der Serie selbst den Jaskier-Charakter spielt. Dieser Song stürmte ebenfalls die iTunes-Charts, aber auch die Billboard Charts. In einem Interview verriet Belousova, dass sie seit der Premiere des Songs von unzähligen Fans Neuinterpretationen zugeschickt bekämen. Zudem hat auch Tina Guo – eine Cello-Virtuosin, die seit Jahren immer wieder mit Hans Zimmer zusammen Musik aufnimmt und mit ihm und «Hans Zimmer Live» rund um die Welt tourte – eine Cover-Version mit ihrem elektrischen Cello eingespielt. Am 2. März 2020 hat das Duo Belousova und Ostinelli angekündigt, dass es am diesjährigen Filmmusik-Festival in Krakau eine Concert-Show von THE WITCHER geben wird – inkl. den Solisten Lindsay Deutsch (Violine, Fidel, elektrische Violine) und Declan de Barra (Gesang) sowie einen 30-köpfigen Chor. Die Musik wurde hierzu in der Besetzung ausgebaut, doch bereits Ende März mussten sie ankündigen, dass die ganze WITCHER-Konzertshow wegen der Corona-bedingten Festivalabsage ins 2021-Festivalprogramm verschoben werde. Stattdessen fanden am 30. Mai 2020 live gestreamte in-Studio-Konzerte statt, wobei Sonya Belousova und Giona Ostinelli während 30 Minuten Auszüge aus der WITCHER-Musik präsentierten. The Hype is real – und die Musik ist über weite Strecken wirklich gelungen.
Als WITCHER-Novize habe ich mir die Musik ohne jegliche Vorkenntnisse angehört. Nach den 140 Minuten war ich einigermassen erschöpft – Songs, Instrumentalmusik, traditionell klingende Mittelaltermusik, mystisch-ruhige Stücke und Metall-ähnliche Action-Musik wechseln sich ab. Das Potpourri ist facettenreich, doch passen all diese unterschiedlichen Stilismen punkto Klangfarben, Tempi und Orchestrierung überraschend gut zusammen. Während die WITCHER-Synopsis nach einer dunkleren Version von LORD OF THE RINGS klingt, ist der filmische wie auch musikalische Ansatz definitiv moderner und frecher. Nach dem Schauen der zwar nur mittelmässig gelungenen Serie, macht der Klangkosmos, den Belousova und Ostinelli hier geschaffen haben, noch mehr Eindruck. Mit THE WITCHER ist den beiden wirklich eine Musik gelungen, die der Serie einen charakteristischen Stempel aufdrückt. So stark, wie seit Michael Giacchinos LOST (2004–2010) nicht mehr, wie ich finde. In der Gesamtlänge verlangt das Album trotz grosser Diversität zwar viel Ausdauer – von der 3-stünidigen Download-Version ganz zu schweigen –, aber dennoch lässt man sich gerne mehrmals hierauf ein. Dabei ist auch faszinierend, wie die Musik gemacht wurde. Belousova und Ostinelli lasen die Drehbücher und schrieben bereits im Oktober 2018 erste Songs, da diese für die Dreharbeiten benötigt wurden. Im Juli 2019 fanden die meisten Studioaufnahmen statt. Für diese haben die beiden Komponisten unzählige Spezialinstrumente aus aller Welt zusammengetragen – modern sowie auch mittelalterlich. Einige Instrumente wurden extra für THE WITCHER in den USA angefertigt. Neun MusikerInnen und SängerInnen haben im Studio Solistenparts aufgenommen, die später zusammengemischt wurden. Zu den Musikern zählen auch Belousova und Ostinelli. Nur schon die beiden sollen mit 64 verschiedenen Instrumenten auf dem Soundtrack zu hören sein, wie diese in einem Interview verrieten. Belousova ist zudem auch als Sängerin zu hören. Viele Kompositionen seien beim Improvisieren entstanden. Beispielsweise ist der lyrische «Song of the White Wolf» beim Improvisationsspiel von Belousova auf der Drehleier (Hurdy-Gurdy) entstanden – Ostinelli hat parallel zu ihrem Spiel spontan einen Liedtext aufgeschrieben. Interessant auch folgendes Detail, das Belousova in einem Interview genannt hat: von den meisten Songs haben sie bis zu acht Versionen aufgenommen – mal traditioneller, mal moderner. Dies, um den Produzenten verschiedene Einsatzmöglichkeiten zu eröffnen. Die inzwischen berühmte «Toss A Coin»-Version sei die Nummer 3 oder 4 der aufgenommenen Variationen.
Man kann nicht auf alle Stücke einzeln eingehen. Persönlich finde ich indes die ersten acht Stücke auf der CD 1 besonders gelungen, zumal sie einen guten Überblick über das WITCHER-Musikuniversum geben. In «Geralt of Rivia» erklingt ein markantes Statement des Themas für den titelgebenden Hexer. Markante Trommeln und rockige, kreischende Electronicas charakterisieren den kantigen Witcher stimmig. Der hier präsentierte Mix aus slavisch anmutenden Klangfarben und modernen Synthi-Manipulationen passt perfekt. Doch bieten die weiteren 140 Minuten Musik zum Glück noch viele andere Stilismen. Das zweite Stück ist der bereits genannte Charts-Stürmer «Toss A Coin to Your Witcher», der schon nach erstmaligem Hören nicht mehr aus dem Ohr zu kriegen ist. Anfangs wird der Gesang von Joey Batey nur von einer Renaissance-Mandoline (wie ich vermute) begleitet, doch gewinnt dieser Song mit jeder Minute auch punkto Instrumentalbegleitung an Kraft. Hierauf folgt mit «Happy Childhoods Make for Dull Company» eine lyrische, melancholische Komposition, die dem Hexer-Thema eine ganz andere Seite abgewinnt – mit Rodion Belousovs zartem Oboenspiel. Mit «The Time of Axe and Sword is Now» ziehen wieder dunklere Klänge auf – mit tiefem, rauem Gesang von Declan de Barra in der ersten Hälfte und gedrängtem, kraftvollem Geigenspiel von Lindsay Deutsch in der zweiten Hälfte. Ganz anders klingt «They’re Alive» mit Burak Besirs Spiel auf der Tin Whistle bzw. Penny Whistle und dazu wieder Deutschs Geigenspiel, dieses Mal jedoch in der Form eines traditionellen mittelalterlichen Tanzes – man denke beispielsweise an «Flaming Red Hair» aus THE LORD OF THE RINGS. Nach diesem leichtfüssigen, witzigen Zwischenspiel folgt mit «Tomorrow I’ll Leave Blaviken for Good» ein melancholisches, mystischen Zwischenspiel für Laute gespielt von Arngeir Hauksson und Gesang von Sonya Belousova. Der siebte Track, «Her Sweet Kiss», ist wieder ein Song, gesungen von Joey Batey, und dieser ist ebenso stark wie «Toss A Coin to Your Witcher» und baut auch auf einer markanten Melodie auf, die später auch immer wieder in reiner Instrumentalversion aufgegriffen wird – u. a. in «Everytime You Leave» (CD 2). Mit «It’s an Ultimatum» melden sich die harschen, dunklen, stark verfremdeten Synthi-Klänge zurück. Damit wären die ersten rund 24 Minuten WITCHER-Musik erklungen und wenn man bis hier interessiert zugehört hat, dann dürfte sich daran auch im weiteren Verlauf kaum etwas ändern. Sicherlich gibt es auch repetitive Minuten und teils sind die Source-Music-ähnlichen und ans Mittelalter erinnernden «Märkte- und -Tanzmusik-Nummern» (wenn man das so umreissen darf) etwas gewöhnungsbedürftig – so zum Beispiel die zwei Schlusstracks auf der CD 1, «Pretty Ballads Hide Bastard Truths» und das eher schreckliche «The Fishmonger’s Daughter». Doch machen auch diese Momente die beachtliche musikalische Vielfalt der Musik zu THE WITCHER aus.
Neben den genannten ersten acht Stücke auf der CD 1 sind das dunkle, romantische Stück «Giltine the Artist» – hier werden Erinnerungen an Bear McCrearys OUTLANDER wach – und das Action-Stück «Man in Black» weitere Highlights auf dieser CD. Auf der CD 2 folgt – lapidar ausgedrückt – mehr vom Gleichen, was nicht so negativ gemeint ist, wie es klingt. Aber mit den markantesten Ideen und Themen auf CD 1 dargeboten, erhält der Hörer mit der CD 2 weitere Ausführungen hierzu. Das ist handwerklich nicht minder eindrücklich – Stücke wie «Gold Dragons Are the Rarest» mit dem Duduk, das bereits genannte «Everytime You Leave», die dramatische Witcher-Themavariation in «Here’s Your Destiny» und das abschliessende «The Song of the White Wolf» sind besonders hervorzuheben.
Fazit: Die Musik zu THE WITCHER erinnert stellenweise an bestehende Kompositionen wie beispielsweise die ruhigeren, mystischen Passagen aus THE LORD OF THE RINGS (2001–2003) und romantische Klänge aus OUTLANDER (2014–2020), aber auch die dunklen, bedrohlichen Germania-Momente in GLADIATOR (2000) und in Bezug auf die traditionellere Fidelmusik gar an FAR FROM THE MADDING CROWD (2015). Auch fühlt man sich immer mal wieder an das Schaffen von Nick Cave und Warren Ellis erinnert. Und doch haben es Sonya Belousova und Giona Ostinelli geschafft, einen in seiner ganzen Vielfalt eigenen und spannenden Klangkosmos zu schaffen. Als Doppel-CD hat THE WITCHER einige Längen, aber nichtsdestotrotz ist zu hoffen, dass Belousova und Ostinelli auch für die 2. Staffel die Musik schreiben dürfen und dass sie ihre Ideen weiter ausbauen können. Ihrem WITCHER lausche ich gerne weiterhin.
Basil 1.6.2020
THE WITCHER [Season 1]
Sonya Belousova & Giona Ostinelli
Milan Records (Sony Music)
143:53 Min.
45 Tracks