Voyager – Essential Max Richter

Max Richters Musik entschleunigt, benebelt, stimmt melancholisch, lädt zum Träumen ein. Ja, mitunter döst man weg oder schläft gar ein. Besonders auch in der Form des vorliegenden 2-CD-Albums VOYAGER – ESSENTIAL MAX RICHTER, das einem für über 2.5 Stunden ins Musikuniversum Richters mitnimmt. Hat die zweite CD ausgeklungen, muss man tatsächlich richtiggehend wieder wach werden. Soll nicht heissen, dass seine Musik zum Einschlafen langweilig ist. Doch nach 2.5 tiefenentspannten Stunden kann wohl kaum einer auf konkrete Highlights der CDs verweisen. Ein musikalisches Spektakel sucht man hier vergebens, keine Knaller, nichts was einem vom Hocker reisst. Stattdessen fühlt man sich richtiggehend entrückt. Auch wenn dieses Album einen ergiebigen Querschnitt aus Richters Konzeptkompositionen seit 2002 und bis hin zu seinen jüngeren Soundtracks von 2017 bietet, fühlt sich hier alles irgendwie stimmig und zusammengehörig an. Kein nervöses Werke-Potpourri, sondern ein ruhiger, steter, stellenweise monotoner Strom. Diese oftmals elegische, meditative, repetitive Kombination aus kammermusikalischen Klängen und elektronischer Musik – Post-Klassik, wie es Richter beschreibt – setzt für deren Genuss voraus, dass man sich in Ruhe üben will. Lässt man sich auf diese Musik ein, ist es faszinierend festzustellen, wie man schon nach wenigen Minuten verträumt vor sich hinzustarren beginnt – zumindest mir geht es bei Richters Musik oft so. So kann ich mir auch problemlos vorstellen, dass man während seiner 8.5-stündigen Komposition SLEEP, die er 2015 uraufgeführt hat, tatsächlich im Konzertsaal wohlig in den Schlaf wegdriftet. Auch hierin liegt ein faszinierender Unterhaltungswert, doch diese eigentliche Sogwirkung entwickelt die Musik nur zögerlich, weshalb der Geduldfaden je nach Stimmungslage vorab reissen kann.

Die erste CD ist Stücken aus seinen Konzeptalben und Konzertwerken gewidmet und die zweite CD nimmt sich seinen Filmmusik-Arbeiten an. Wie Wyndham Wallace im Booklet schreibt, kann man diese beiden «Formate» klanglich nicht klar voneinander trennen. So wechseln sich auf einer Filmtonspur denn auch häufig neue Filmmusik-Kompositionen und Auszüge früherer Konzertwerke Richters ab, ohne dass sich diese Wechsel klar hervortun. Auch auf den dazugehörigen Soundtrack-Auskoppelungen sind dann häufig Original-Score und frühere Werke zusammenprogrammiert – beispielsweise jüngst in AD ASTRA (2019) und auch den beiden Soundtracks zur HBO-Serie MY BRILLIANT FRIEND (2018/2020). Es gibt nicht den «Filmmusik-Richter» und den «Konzertmusik-Richter», wie ich finde. Natürlich klingt ein Satz aus «Recomposed by Max Richter: Vivaldi, The Four Seasons» und ein Score-Track aus dem harsch-kühlen Synthi-Score WHITE BOY RICK (2018) sehr verschieden, aber dennoch findet man in beiden Kompositionen jeweils kompositorische und/oder klangliche Überschneidungen. Dass dem so ist, dürfte daraus hervorgehen, wie Max Richter zum Filmmusikformat gekommen ist. Er hat klassische Komposition und Klavier an der University of Edinburgh und an der Royal Academy of Music studiert. In verschiedenen Bands begann er, Werke der zeitgenössischen Klassik für neue Besetzungen zu adaptieren und zu variieren. Hinzu kam, dass er sich der Kombination aus elektronischer Musik und klassischen Kompositionsansätzen verschrieben hat. Seine Musik fand zusehends Einzug auf Filmmusik-Tonspuren – so u.a. in Martin Scorseses Thriller SHUTTER ISLAND (2010). Sprich, die Regisseure und Filmproduzenten wurden auf Richter aufmerksam, weil sie seine Konzert- und Konzeptkompositionen interessant fanden. Seine Filmmusik sollte (wohl) ähnlich gearbeitet sein. Interessanterweise zeichnet sich gerade sein Filmmusik-Debüt mit WALTZ WITH BASHIR (2008) dadurch aus, dass es sich eher weit von seinen Stilismen wegbewegt und mit vielen verschiedenen Musikstilen aufwartet (interessanterweise ist hiervon kein Track auf diesem 2-CD-Set zu finden; allenfalls aus lizenzrechtlichen Gründen, denn von der Bedeutung im Gesamtwerk her betrachtet, hätte hiervon mindestens ein Stück auf der zweiten CD mit drauf sein müssen). Seine jüngeren Arbeiten – mit Ausnahme der sehr unterhaltsamen Musik für MARY QUEEN OF SCOTS (2018) – bewegen sich indes nahe seiner Arbeiten abseits des Filmmediums. So kommt es, dass man sich nach dem Anhören verschiedener Richter-Soundtracks immer wieder in ähnlichen musikalischen Gefilden wiederfindet bzw. man oftmals auch die gleichen Melodien wiederholt zu hören bekommt, da dasselbe Stück auf mehreren Alben platziert ist. Dem ist nichts entgegenzusetzen, aber es erwarten einem dadurch eher selten eigentliche Überraschungen. So schreiben denn auch viele Konsumenten in ihren Rezensionen auf Amazon und Co. immer wieder, dass man sich «Kopfhörer aufsetzen und die Augen zumachen solle». Und man driftet weg… wie geschrieben, kann dies durchaus auch reizvoll sein, aber es ergeben sich eher selten markante Highlights à la Themen-Ohrwürmer.

Ist VOYAGER denn nun ein ESSENTIAL MAX RICHTER und lohnt sich die Anschaffung? Meiner Meinung nach ja. Wer Gefallen findet an flächiger Musik, die sich weniger auf markante Melodien als auf in sich fliessende Klangfarben ausrichtet, die sich aus einer Verbindung von Ambient-Samples mit kammermusikalischer Instrumentierung ergibt, dem wird Max Richters Musik gefallen. Und da VOYAGER tatsächlich ein recht umfassender Querschnitt darstellt, dürften die geneigten HörerInnen eines solchen Post-Klassik-Musikstils hier auch viel Musik finden, die ihnen zusagt. Extrovertierte Filmmusik mit knalliger Brass-Action, dramatischen Streichern und markanten Themen à la John Williams und Co. findet man hier jedoch nicht. Sprich, hier regiert musikalische Kontemplation.

Basil 5.9.2020

 

VOYAGER – ESSENTIAL MAX RICHTER

Max Richter

Deutsche Grammophon

156:18 Min. / 43 Tracks