Notre-dame brûle

Am 15. und 16. April 2019 stand die Kathedrale Notre-Dame, ein Wahrzeichen von Paris, in Flammen. Die Bilder gingen um die Welt. Innert Tagen überschlugen sich Meldungen zu Wiederaufbauversprechen seitens der Regierung, von Heldentaten, von möglichen Brandursachen – bis heute nicht geklärt –, von millionenschweren Spenden, von versehrten baulichen Zeitzeugen. Während noch Monate nach dem Brand Experten mit der Rettung und Abstützung der übrig gebliebenen Gebäudeteile beschäftigt waren, liess Regisseur Jean-Jaques Annaud Teile der Notre-Dame im Frühjahr 2020 in einem Filmstudio nachbauen, damit er diese wiederum grossmehrheitlich in Brand setzen und eindrücklich nachgestellte Szenen der Rettung und Zerstörung drehen konnte.

Zusammen mit ausgewähltem Filmmaterial des tatsächlichen Ereignisses, zahlreichen Augenzeugen-Videos und O-Ton-Aufnahmen schuf er mit NOTRE-DAME BRÛLE (2022) ein knapp 2-stündiges Doku-Drama, das die Ereignisse während 24 Stunden nach den eingegangenen Erstmeldungen des Brandes beleuchtet. Dabei stehen primär die Rettungskräfte im Fokus, weshalb mitschwingendes Pathos wohl unumgänglich ist. Nicht, dass die Leistungen der Rettungskräfte keine Beachtung verdient hätten, doch gemäss dem Trailer bewegt sich die Dramatik und (hochstilisierte) Action teils auf Unterhaltungsniveau à la BACKDRAFT (1991), WORLD TRADE CENTER (2006) und Konsorten, was einen «reisserischen» Nachgeschmack aufkommen lässt. In diese Richtung zeigen jedenfalls erste Kritiken. Optische Imposanz wird Annauds jüngstem Werk indes durchgehend attestiert – der Film wurde im IMAX-Format gedreht – und in Sachen Filmmusik lohnt sich ein Hinhören ebenfalls.

Die Filmmusik wurde von Simon Franglen komponiert. Erfreulicherweise liess das Budget zu, dass er ein 70-köpfiges Sinfonieorchester, einen Chor und die Gesangsolistin Grace Davidson für die Aufnahmen verpflichten konnte. Davidson war u.a. auch in Howard Shores THE HOBBIT: THE DESOLATION OF SMAUG (2015), Frank Ilfmans GUNPOWDER MILKSHAKE (2021) und in Harry Gregson-Williams’ THE LAST DUEL (2021) mit dem schönen Song «Celui que je désire» zu hören. In NOTRE-DAME BRÛLE (2022) setzt ihr Gesang prominent und in zahlreichen Stücken schöne, sakrale Akzente. Simon Franglen begab sich mehrmals nach Frankreich, ins Burgund, wo er mit Regisseur Jean-Jaques Annaud und den Tontechnikern während der Filmschnittarbeit viel über den Musikeinsatz diskutieren konnte.

Einer seiner Burgund-Aufenthalte fand im August 2021 statt. Während mehreren Tagen haben er und seine Crew das Glockengeläut der Cathédrale de Sens aufgenommen – dort sind 500-jährige, 26 Tonnen schwere Kirchenglocken täglich im Einsatz. Auch dieses Glockengeläut bezieht er in seine Musik mit ein, wobei er die orchestralen und gesanglichen Elemente einer überraschend präsenten Synthi-Palette gegenüberstellt. Letzteres mildert den Unterhaltungswert dieser Musik stellenweise ab, doch sorgen ein schönes, eingängiges Hauptthema sowie der divers eingesetzte Gesang des Chors Tenebrae und Davidsons für schöne Highlights zwischen den eher funktionalen Spannungsmusikmomenten. Insgesamt habe Franglen 85 Minuten Musik aufgenommen – in den Air Studios und im Abbey Road Studio 1 –, wobei satte 72 Minuten hiervon auf dem veröffentlichten Album in chronologischer Abfolge zu hören sind. Rund 50 Minuten hätten es wohl auch getan, aber das ist wohl Kritik im Kleinlichen, denn die Filmmusik weiss dennoch zu überzeugen.

Franglen wird in der Filmmusikszene in Bezug auf seine Kompositionsweise nicht zu Unrecht oft als ein «Nachfolger von James Horner» gesehen. Fakt ist, dass er mehrere Jahre intensiv mit Horner zusammengearbeitet hat – das geht zurück bis auf AN AMERICAN TAIL: FIEVEL GOES WEST (1991) und intensivierte sich insbesondere ab TITANIC (1997) –, was durchaus nachvollziehbar und glücklicherweise Spuren in seinem Schaffen hinterlassen hat. Zudem beschloss er Horners Arbeit an THE MAGNIFICENT SEVEN (2016) und er hat sich für die AVATAR-Fortsetzungen, für die Horner vorgesehen war (zumindest sprach Horner in Interviews im Frühjahr 2016 von damals stattgefundenen Gesprächen mit James Cameron über seine Arbeit an AVATAR 2), verpflichten lassen. Dennoch ist Franglen auch ein vielseitiger Komponist abseits dieser Verbindung zu Horner und dessen Filmmusikschaffen. Er hat u.a. mit Grössen wie Whitney Houston, Michael Jackson, Quincy Jones, Celine Dion, Luciano Pavarotti, Toni Braxton, The Corrs und Madonna sowie Filmkomponisten wie Howard Shore und John Barry zusammengearbeitet.

Simon Franglen

Mit seinen zwei jüngsten Filmkompositionen – THE CURSE OF TURANDOT (2021) und nun eben NOTRE-DAME BRÛLE – machte er indes allem voran auch deshalb von sich reden, weil sich beide Arbeiten wie verloren geglaubte Horner-Werke anfühlen. Neben bekannten Orchestrationen und Horner’scher Dramatik zeichnen sich beide Arbeite auch durch ein prominentes und eingängiges Hauptthema aus, das sich wie ein roter Faden und in vielen Variationen durch die gesamte Spiellänge zieht. Zudem sagte Franglen im Interview mit John Mansell für das Online-Magazin Movie Music International: «Ich habe mich auch dafür entschieden, einen echten «End Title»-Track aufzunehmen, anstatt einige Elemente aus der Filmmusik zusammenzuschneiden, wie dies heutzutage oft geschieht. Ich wollte Jean-Jacques erstaunlichen Film widerspiegeln, während der Abspann lief.» Dies ein Ansatz, den auch Horner, wenn immer möglich, beherzigte und der nicht selten zu den Highlights seiner Alben zählte.

NOTRE-DAME BRÛLE eröffnet mit Glockenschlägen, gefolgt von verträumtem Klavierspiel und ebensolchem Gesang – ein gelungenes musikalisches «Erwachen», betitelt als «A Paris Morning», wobei dieser Albumanfang interessanterweise stark an «New York Awakens» aus Craig Armstrongs WORLD TRADE CENTER (2006) erinnert. Zudem präsentiert Simon Franglen ab 1:22 ein erstes Chorstatement des Hauptthemas. In voller Länge erklingt dieses Thema dann indes erst im nächsten Stück, «The Workmen Arrive». Während diesen Stücken und dem dritten Track, «850 Years», wird die in die Jahre gekommene Notre-Dame noch saniert und renoviert, womit erhabene, sakrale und gar verspielte Klänge Platz finden. Doch mit «Through the Roof» beginnt sich das Unheil anzukünden. Mit «False Alarm» führt Franglen die Synthi-Aspekte seiner Komposition zugunsten hektischer, pulsierender Grundstimmungen ein. Auf diesen falschen Alarm folgt indes der dramatische Ernstfall und hierfür fährt Franglen im imposanten Stück «The Drone Squad» erstmals deftiges Geschütz auf – Hörner, Chor und rollende Perkussion reflektieren das Ausmass des Feuers eindrücklich. Stücke wie das folgende «Les Pompiers» oder auch «Water Pressure» fallen dann indes in die pulsierende Synthi-Spannungsmusik-Ecke. Nicht schlecht, aber auch nicht wirklich interessant.

Da lässt der dissonante Choreinsatz im kurzen, aber eindrücklichen «The Fire Grows» schon wieder eher aufhorchen und mit «The Architect» – wieder mit Horner-typischen Streichern, Trommelwirbeln und metallischer Perkussion – und «The Steeple Falls» donnern Action-Momente durch die Boxen. «I Need Volunteers» läutet mit einem besonders heroischen Hauptthema-Statement ein kraftvolles Soundtrack-Finale ein. «Entering the Belfry» und «Hanging on for Dear Life» sind grossartig. Dann folgt leider eine eigentliche musikalische «Fraktur», denn eine Version des weltberühmten Kirchenlieds «Amazing Grace» reisst einem komplett aus der Orchestermusik raus. Dieses Stück hätte man wohl besser ans Albumende programmiert, doch damit wäre die vorgenannte Chronologie, die man fürs Album beibehalten wollte, gebrochen worden. Jedenfalls knüpft das Actionfinale «Back Into Hell» dann nahtlos an «Hanging on for Dear Life» an, weshalb «Amazing Grace» deplatziert scheint. Der 8-minütige Abschluss mit «The Fire is Out» und den «End Titles» porträtieren Hoffnung, Erleichterung, Trauer und Melancholie, so wie man es in einem solchen filmischen Kontext erwartet – wobei das Hauptthema in den «End Titles» ab 1:40 adäquat kraftvoll aufspielt, bevor «A Paris Morning»-Gesang und -Klavierspiel die Filmmusik stimmungsvoll und abgerundet ausklingen lassen.

Mit NOTRE-DAME BRÛLE präsentiert Simon Franglen einige seiner bisher eindrücklichsten Kompositionen, wenn auch etwas «verwässert» von zweckdienlichen Spannungsmomenten. Als Gesamthörerlebnis finde ich THE CURSE OF TURANDOT stimmiger und daher gelungener, aber die Highlights von NOTRE-DAME BRÛLE vermögen – bei mir – länger nachzuhallen und als langjähriger Horner-Enthusiast finde ich viel Gefallen an den zahlreichen stilistischen Anleihen.

Basil  |  18.04.2022

NOTRE-DAME BRÛLE (NOTRE DAME ON FIRE)

Simon Franglen

Milan Records (Sony)

72:42 | 26 Tracks