Lean by Jarre – Teil 1

von Phil Blumenthal

Die Idee zu diesem Artikel entstand aus der Absicht es Andi gleichzutun und einen Beitrag zur Rubrik Nahaufnahme beizusteuern. Ursprünglich sollte dieser auf eine Szene aus RYAN’S DAUGHTER (1970) fokussieren. Doch ich bin nie dazu gekommen bin, diesen Beitrag fertigzustellen – oder besser gesagt: Es kam immer etwas, meist Filmmusikalisches, dazwischen. Als ich letztens wieder einmal DOCTOR ZHIVAGO (1965) geschaut habe, reifte die Überlegung, daraus diesen unvollendeten, aber fortgeschrittenen Artikel doch gleich auf die Zusammenarbeit zwischen Maurice Jarre und David Lean auszuweiten.

David Lean habe ich richtig relativ spät entdeckt, irgendwann in den 1990ern, als ich es endlich schaffte seinen LAWRENCE OF ARABIA (1962) durchzugucken, anstatt mich nur von Szene zu Szene zu hangeln – was dieser grossartige Film sicherlich nicht verdiente. Damals, dank den restaurierten Bildern dieser wundervollen Widescreen-Version, hat es mich nur so in das Werk hineingesogen. Dann war es Zeit, mir DOCTOR ZHIVAGO doch noch «anzutun», mit dem ich lange schlicht und ergreifend lediglich Balalaik-Musik und «Lara’s Theme» sowie übertriebenen Herzschmerz verband. Und auch damit natürlich wieder völlig daneben lag. Schliesslich und endlich wagte ich mich an RYAN’S DAUGHTER und war völlig fasziniert. In all dem Hin und Her sei erwähnt, dass ich mir damals, Mitte der 1980er, als sechzehnjähriger, pubertierender Filmfan im Kino A PASSAGE TO INDIA (1984) anschaute und diesen schlicht nicht kapierte. Erstaunt und gleichzeitig entsetzt war ich, als Jarres Musik bei der Oscarverleihung 1985 gegen meinen «Helden», John Williams, der gleich zweimal nominiert war (INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM und THE RIVER), obenaus schwang.

Obwohl David Lean seit 1930 im Filmgeschäft tätig war und 1942 mit IN WHICH WE SERVE (gemeinsam mit Noël Coward) seine erste Regiearbeit ablieferte, war es THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI im Jahr 1957, mit dem Lean in die Annalen der Filmgeschichte einging. Ausgezeichnet mit sieben Oscars, darunter Film und Regie, stand Lean danach die Filmwelt offen. Er entschied sich für LAWRENCE OF ARABIA (1962), der auf dem autobiografischen Buch «The Seven Pillars of Wisdom» von T.E. Lawrence fusste. Doch zuvor, kurz etwas Biografisches zu den beiden Freunden:

David Lean ist 1908 im englischen South Croydon nahe London geboren. In der Schule ein hoffnungsloser Träumer, arbeitete er später in der Firma seines Vaters. Weil seine Arbeit ihn völlig langweilte, verbrachte er jeden Abend im Kino und erhielt schliesslich einen Praktikantenjob in den Gaumant Studios. Nach und nach arbeitete er sich nach oben, bis er in den 1920er Jahren begann, Filme zu schneiden. Mit seinen Charles-Dickens-Verfilmungen GREAT EXPECTATIONS (1946) und OLIVER TWIST (1948) machte er sich schliesslich einen Namen und begann eine freundschaftliche Arbeitsverbindung mit Alec Guinness, der in der Folge in drei der ganz grossen, epischen Lean-Filmen mitspielen würde.

Maurice Jarre wurde 1924 in Lyon geboren. Erst mit 16 widmete er sich der Musik und studierte am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris Theorie, Harmonie und Schlagwerk. Nach seinem Militärdienst wurde er musikalischer Direktor des Théâtre National Populaire und schrieb während 12 Jahren fast ausschliesslich Theatermusik, doch folgten gleichzeitig auch Ausflüge in den französischen Film. 1951 komponierte er die Musik für den Dokumentarfilm HOTEL DES INVALIDES. LA TÊTE CONTRE LES MURS (1958) sollte seine erste Arbeit für einen Spielfilm sein und startete gleichzeitig seine Zusammenarbeit mit Georges Franju. Mit der Musik für Serge Bourguignons Oscar-Gewinner in der Kategorie «Bester fremdsprachiger Film», LES DIMANCHES DIMANCHES DE VILLE D’AVRAY (1962), machte er den Produzenten Sam Spiegel auf sich aufmerksam. Jarre schrieb schliesslich Musik für vier Filme von David Lean und viele weitere Produktionen Hollywoods, aber auch Europa blieb er stets treu. 2000 komponierte Jarre seinen letzten Score (I DREAMED OF AFRICA). 2009 verstarb der mit drei Oscars (notabene alle für David Lean Filme), vier Golden Globes und zwei BAFTAs ausgezeichnete Komponist, dessen Markenzeichen Märsche, das Ondes Martenot, die Verwendung von Synthesizern, ein «exotisches» Instrumentarium und viel Perkussion waren, im Alter von 84 Jahren in Kalifornien.

LAWRENCE OF ARABIA

Es dauerte seine Zeit, bis das Projekt realisiert werden konnte. 1940 versuchte sich Peter Korda daran, mit Laurence Olivier in der Hauptrolle, doch die Finanzierung scheiterte. Bereits anfangs der 1950er Jahre hatte dann David Lean seine Hände am Stoff, doch auch dieser Versuch misslang vorerst. Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Sam Spiegel und David Lean bei THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI entschieden sich beide für eine weitere Zusammenarbeit. Zunächst war eine Verfilmung des Lebens von Ghandi geplant. Trotz ausgedehnter Vorproduktion verlor Lean schliesslich das Interesse daran und LAWRENCE OF ARABIA trat wieder in den Vordergrund. Zunächst versuchte sich Michael Wilson (5 FINGERS, 1952; BRIDGE ON THE RIVER KWAI) an einem Drehbuch, doch Lean gefiel diese Fassung nicht und so holte man Robert Bolt (DOCTOR ZHIVAGO; THE MISSION, 1986) an Bord, von dessen Drehbuchversion schlussendlich hauptsächlich die Dialoge verwendet werden sollten. Gedreht wurde in Marokko und Spanien. Wie zu erwarten, waren die Dreharbeiten eines solchen monumentalen Films alles andere als einfach. Einerseits wurde teilweise ohne Script gedreht (Bolt kam spät dazu und geriet gar in die Fänge der Justiz), andererseits holte sich Peter O’Toole (der den anfangs vorgesehenen Albert Finney ersetzte) einen blutigen Hintern vom Kamelreiten. Ausgedehnte Drehs in der Wüste zerrten nicht nur an den Beteiligten, sondern auch am Equipment. Nebst O’Toole konten Anthony Quinn, Alec Guinness, Jack Hawkins, Omar Sharif, Anthony Qualye, Claude Rains und José Ferrer für Rollen in LAWRENCE gewonnen werden.

Nicht allen gefiel das fertige Produkt. So verbot T.E. Lawrences Bruder A.W. Lawrence den Produzenten, das Buch seines Bruders «The Seven Pillars of Wisdom» im Titelspann zu nennen (obwohl er ihnen zuvor die Rechte am Buch veräusserte). Bis heute umstritten ist die Szene, in welcher der gefangene Lawrence vom türkischen General Bey gefoltert und missbraucht wurde. Auch andere geschichtliche Fakten und Personen wurden etwas «verbogen», aber das ist im Filmgeschäft üblich und gehört dazu, solange es der Dramaturgie dient. Der Film wurde nach seiner Premiere um 20 Minuten gekürzt, damit die Kinos mehr Vorstellungen einprogrammieren konnten. Glücklicherweise entstand 1989 eine restaurierte Fassung (216 Minuten) und zum 50 Jahre Jubiläum (2012) gibt es gar eine wunderbare 227 Minuten. Ich erinnere mich, dass ein Kino in New York mehrere Wochen, wenn nicht Monate, den 216 Minuten-Director’s Cut zeigte, ich glaube es war das Ziegfeld Theatre, aber man behafte mich nicht darauf.

Dass David Leans bei LAWRENCE OF ARABIA verwendeter, visueller Stil Regisseure wie Steven Spielberg, Martin Scorsese oder Ridley Scott beeinflusste, ist unbestritten. Spielberg selbst ist ein grosser Fan des britischen Regisseurs und insbesondere von LAWRENCE, den er als einen seiner Lieblingsfilme bezeichnet. Der Erzählstil, die famosen Darsteller, die Kameraarbeit (Freddie Young), die Kostüme (Phyllis Dalton, die bei der Eingabe für die Oscars schlichtweg vergessen ging) und die Ausstattung (John Box, John Stoll, Dario Simoni) sind von allererster Güte. Es überrascht nicht, dass LAWRENCE OF ARABIA mit sieben Oscars ausgezeichnet wurde: Film, Regie, Kamera, Art Direction, Film Editing, Sound und Musik. Leer ausgegangen sind das Drehbuch (es gewann Horton Foote für TO KILL A MOCKINGBIRD), Peter O’Toole (der gegen Gregory Peck, ebenfalls für TO KILL A MOCKINGBIRD, das Nachsehen hatte) und Omar Sharif (der Oscar ging an Ed Begley, SWEET BIRTH OF YOUTH). Während viele Filme von der TV-Landschaft verschwunden sind, erfahren andere, wie Leans LAWRENCE oder DOCTOR ZHIVAGO, regelmässige Ausstrahlungen. Sie sind zeitlose und nach wie vor grandiose Zeugen des Schaffens des britischen Filmemachers.

Jarre war 1962 für viele noch immer ein wenig bekannter Neuling als ihn Sam Spiegel für LAWRENCE quasi entdeckte. Jarre konnte zuvor mit Filmen wie CRACK IN THE MIRROR (1960), THE BIG GAMBLE (1961) und im Jahr von LAWRENCE OF ARABIA mit einer anderen Mammutproduktion, THE LONGEST DAY, «Hollywood-Luft» schnuppern. Für David Leans Film blieben im lediglich vier Wochen, um einen Score für einen dreieinhalbstündigen Film zu schreiben. Er hinterliess damit nicht nur beim Zuschauer einen bleibenden Eindruck, auch der Academy entging nicht, dass bei LAWRENCE musikalisch Besonderes geleistet wurde. Der «kleine» Franzose setzte sich gegen Grössen und grossartige Filmmusiken wie MUTINY ON THE BOUNTY von Bronislau Kaper, TARAS BULBA von Franz Waxman, TO KILL A MOCKINGBIRD von Elmer Bernstein und FREUD des Newcomers Jerry Goldsmith durch.

Jarres Score beginnt fulminant mit Timpani und Timbales, ehe wir in ein arabisches Segment geführt werden. Danach hören wir eines der bedeutendsten Themen des Scores, das Wüstenthema, gefolgt vom zweiten arabischen Motiv, das Jarre öfters verwenden wird. Dies alles und einen Marsch verarbeitet Jarre in «Overture». Ein weiteres, allerdings kurzes Thema, ist für die Briten reserviert (zu hören in «Main Titles»), während ein verspieltes Motiv für die beiden Jungs vorgesehen ist, die Lawrence auf Schritt und Tritt begleiten («First Entrance to the Desert»). Ein kraftvolles Beispiel von Jarres brillanter Intuition ist in «We Need a Miracle» zu hören, in dem der Komponist Lawrences Gedanken mit der Kraft und Ungewissheit der Wüste verknüpft. Jarre führt die Klänge für die Einöde in «In Whose Name do You Ride?» fort. Die beeindruckendsten Momente im Zusammenhang mit der brutalen Hitze, der unendlichen Landschaft aus Steinen, Sand und der Todesgefahr in der Wüste, sind in den nacheinander folgenden «That is the Desert (The Camels will Die)», «Mirage/The Sun’s Anvil» und «Gasim Lost in the Desert» verarbeitet. Diese Stücke und das damit zusammenhängende «Lawrence Rescues Gasim / Lawrence Returns with Gasim / The Riding», gepaart mit den grandiosen Bildern – das ist ganz grosses Filmmusik-Kino. Diese Momente sind für Jarres Score zu LAWRENCE OF ARABIA symbol- und beispielhaft. Die «Arbeit» mit der ständig präsenten Wüste, deren filmische Umsetzung von Lean einen haftenden Eindruck beim Zuschauer hinterlässt, aber auch Jarres Fähigkeit, arabische Klänge (ohne neo-ethnisches Gesinge und Gesäusel) und triumphale Momente in seiner Komposition zu vereinen, machen den Score zu einem der ganz Grossen der Filmmusik. LAWRENCE OF ARABIA erfuhr diverse Veröffentlichungen und Einspielungen. Am bekanntesten dürfte den meisten das Album sein, das einst zum Film erschien. Später machte sich Silva Screen daran, unter Leitung von Tony Bremner und dem Philharmonia Orchestra eine durchaus gelungene Neuaufnahme einzuspielen. Diese stiess jedoch bei Maurice Jarre auf mässige Gegenliebe. Auch einer der damals noch jungen Mitproduzenten, James Fitzpatrick, wusste, was falsch gelaufen war und korrigierte dies schliesslich 2010 mit einer fantastischen Neueinspielung des kompletten Scores mit Nic Raine als Dirigent des The City of Prague Philharmonic Orchesters – ein Muss für Fans des Films und Jarres Musik.

Eine lustige Sache trug sich später zu, als Jarre in Sam Spiegels Büro in London erschien und die Oscar-Statuetten zu LAWRENCE OF ARABIA erblickte. Erst als er Spiegel darauf hinwies, dies dort sei doch sein Oscar, konnte Jarre seinen ersten Academy Award endlich in Händen halten. Beim französischen Zoll am Flughafen in Paris drohte man dem Komponisten dann aber mit Gefängnis, schliesslich sei dieses Ding aus purem Gold! Der Zollbeamte kratzte mit einem Messer an der Oberfläche und schnell wurde klar: Nicht die ganze Statuette aus dem teuren Edelmetall. So fand der Filmmusik-Oscar für LAWRENCE OF ARABIA doch noch seinen Platz bei Jarre.

DOCTOR ZHIVAGO

David Leans Verfilmung von Boris Pasternaks mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman, beginnt vor dem ersten Weltkrieg in einem unruhig werdenden, zaristischen Russland.  Pasternaks Buch wurde in seinem Heimatland nicht veröffentlicht. Ausserdem wurde er mit dem Fakt konfrontiert, dass, falls er den ihm zugesprochenen Nobelpreis annehme, er nicht mehr in die Sowjetunion zurückreisen dürfe. Pasternak, der sein Land liebte, lehnte deshalb den Preis ab. Der italienische Produzent Carlo Ponti, Produzent u.a. von LA STRADA (1954), kaufte die Rechte am Buch. Dabei hatte er den Hintergedanken, seiner Ehefrau Sophia Loren mit dem Part der Lara zu einem Vehikel mit internationalem Renommee verhelfen zu können. Da das Projekt aber Unmengen an Geld verschlingen würde, traute MGM einzig David Lean zu, den Film umsetzen zu können. Lean, der das Buch liebte, sagte zu, war aber der Meinung, die Loren wäre (körperlich) zu gross für die Rolle. Ponti gab schliesslich klein bei und David Lean erhielt nach LAWRENCE carte blanche.

Er heuerte seinen LAWRENCE OF ARABIA-Autor Richard Bolt an, um Pasternaks Buch als ein Drehbuch zu adaptieren. Zudem wollte es Lean vermeiden, einen politischen Film zu machen. Vielmehr sollte der menschliche Aspekt und die Liebesgeschichten in den Vordergrund gestellt werden. Das führte Bolt bestens aus, dem es ausserdem hervorragend gelang, die politischen Wandlungen von der pompösen, französisch beeinflussten Zeit der Aristokratie zum unterdrückerischen, kommunistischen Land Lenins einfliessen zu lassen (Gewinner gab es, wie immer, keine und die, die vorher schon gelitten hatten, erfuhren weiterhin Leid). Vor Schwierigkeiten wurde die 15 Millionen Dollar teure Produktion bezüglich Drehorte gestellt. Ausgiebig begaben sich die Macher auf die Suche nach geeigneten Ländereien und Städten. In der UdSSR konnte und durfte man nicht filmen. Länder wie Schweden waren nicht mit genügend grossen Studios ausgestattet und so kehrte Lean schliesslich dorthin zurück, wo er auch LAWRENCE drehte: Spanien! Mit wunderschönen Landschaften, seiner Grösse und den vorhandenen Studioeinrichtungen schien das Land ideal. Ausstatter John Box errichtete in einem Vorort von Madrid Strassenzüge, die jenen Moskaus aus jener Zeit ähnelten, während Aussendrehs in einer Provinz Spaniens stattfanden, die eigentlich schneereich wäre – ausgerechnet während der Drehzeit gab es allerdings kaum genug der weissen Pracht. Dem Film ist das allerdings nicht anzusehen. Selbst das eingeschneite und mit Eiszapfen aus Bienenwachs übersäte Ferienhaus in Varykino strahlt einen ungeheuren Charme aus. Einige wenige Landschaftsszenen wurden schliesslich in Finnland gedreht.

Als Kameramann verpflichtete Lean den jungen Nicolas Roeg (FAHRENHEIT 451, 1966), doch gab es zwischen den beiden schnell Spannungen in der Umsetzung von Leans klaren Vorstellungen. Also wurde der Veteran aus LAWRENCE OF ARABIA-Tagen, Freddie Young, zurückgeholt. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Farbgebung gelegt: Beinahe schwarz-weiss und in grauen Bildern während der Zarenzeit, angereichert mit kräftigen roten Akzenten zu Beginn der Revolution und für die prächtigen Bälle, kühle weiss-blaue Farben in der Kälte des Kriegs und, schliesslich, in Varykino, prächtige, starke Kontraste in der Phase, in der der Film durch alle vier Jahreszeiten fliesst. Die Pre-Production nahm zwölf Monate in Anspruch, der Dreh selber ebenfalls fast ein weiteres Jahr. So blieben gerade acht Wochen für den Schnitt eines Films, der über zweieinhalb Stunden dauern und zu Weihnachten in die Kinos kommen sollte.

Wieder war die Besetzungsliste besonders: Omar Sharif, zu seiner eigenen Überraschung damals als Zhivago besetzt, Alec Guinness in einer Nebenrolle, Rod Steiger, Tom Courtenay, Ralph Richardson sowie die damals noch unbekannte Julie Christie, die im selben Jahr den Oscar für DARLING (1965) gewinnen sollte und Geraldine Chaplin, die Tochter des grossen Charlie, welche damals in ihrer Tanz- und Modelkarriere steckte. Insbesondere die Wahl Sharifs als Yuri war eine Besondere. Sharif hatte sich eigentlich für die Rolle des Pasha beworben, doch Lean sagte ihm ab und bot ihm gleichzeitig eine der Hauptrollen an. Um «russischer» zu erscheinen, liess der geborene Ägypter sich den Haaransatz mit Wachs entfernen. Die schmerzhafte Prozedur musste mindestens einmal wöchentlich wiederholt werden. Ausserdem zog man seine Gesichtshaut nach hinten, um optisch markantere Wangenknochen zu erzeugen – auch das keine angenehme Angelegenheit. Sharif bot mit seiner zurückhaltenden Darstellung eine grandiose Leistung. Alleine die Szene, in der er auf dem Balkon in Moskau stehend das Gemetzel der Kavalleristen an den Demonstrierenden beobachtet, alleine auf seine Reaktion in der Mimik fokussiert, ist einer der stärksten Momente dieses wunderschönen, vielfältigen Films.

Zu Leans Enttäuschung erhielt DOCTOR ZHIVAGO nach seiner Premiere viele negative Kritiken, die dem Film, ungerechtfertigter Weise, eine Romantisierung der Revolution vorwarfen und die Schauspieler als Träger toller Kostüme trivialisierten. Dem Publikum war das allerdings egal, es strömte in Massen in DOCTOR ZHIVAGO. Der Film wurde in den USA wie auch dem Rest der Welt ein Riesenerfolg. An der 38. Verleihung der Academy Awards 1966 kam ZHIVAGO auf zehn Nominationen, wurde allerdings fast «nur» in den technischen Kategorien Art Direction (John Bx, Terence Marsh, Dario Simoni), Kamera (Freddie Young), Kostüme (Phyllis Dalton – dieses Mal klappte es!), Originalmusik (Maurice Jarre) sowie adaptiertes Drehbuch (Robert Bolt) ausgezeichnet. In den Hauptkategorien «Bester Film» und «Regie» unterlag Lean kaum nachvollziehbar THE SOUND OF MUSIC von Robert Wise. Verkehrte Oscar-Welt eben.

«Jarre kann zwar gut mit Sand und grossen Landschaften umgehen, aber für eine russische Thematik haben wir geeignetere Komponisten», wurde Lean mitgeteilt, als er bei MGM anrief, um an die Telefonnummer von Maurice Jarre zu gelangen. David Lean liess sich von diesem Vorschlag des Studios nicht beirren und hielt an seinem Komponisten fest. Für Jarre war ZHIVAGO alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seine ersten Vorschläge für das Liebesthema, das erst nach dem Film zu «Lara’s Theme» wurde (auf der Originalpartitur findet sich kein Stück mit diesem Namen), stiessen bei Lean nicht auf Gegenliebe. Schliesslich empfahl er seinem Komponisten, eine Auszeit zu nehmen, ZHIVAGO und Russland zu vergessen und mit seiner Freundin in die Berge, die Jarre so liebte, zu fahren und ein wenig ins Reine zu kommen. «Schreib ein Thema für Deine Freundin.» Als Jarre nach Santa Monica zurückkehrte, entwickelte er das Thema, das David Lean kurzum mit «that’s it!» kommentierte. Obwohl der Komponist den heute unverkennbaren Balalaika-Klang früh im Kopf hatte, so ist es doch das einzige, das musikalisch nebst dem Beginn mit dem Begräbnis und der «Internationalen» etwas mit Russland gemein hat.

In den Staaten Balalaika-Spieler zu finden, erwies sich als schwieriges Unterfangen. Durch Zufall kam er zu Musikern, die in einer orthodoxen Kirche in Hollywood spielten. Schliesslich sollten es 24 Balalaika-Musiker und -Musikerinnen sein, die bei der Einspielung des Scores anwesend waren. Da keiner von ihnen Noten lesen konnte, gestalteten sich die Aufnahmen allerdings eher schwierig. Mit Einzelunterricht und den richtigen Signalen geriet das Zusammenspiel mit dem Orchester schliesslich doch noch, auch wenn sich die russisch-stämmigen Musikerinnen scheinbar nicht mehr als 16 Takte einprägen konnten. Nebst der Besonderheit mit den 24 Balalaika-Spielern, kamen «exotische» Instrumente wie das Shamisen, eine Koto, eine Zither aber auch das elektrische Novachord oder ein präpariertes Klavier zum Einsatz.

Als Jarre schliesslich den fertigen Film sah, war er enttäuscht und erzürnt zugleich. Durch die Schnitte wurde einiges, was Jarre vorsah, nicht oder ganz anders verwendet und «Lara’s Theme» war seiner Meinung nach viel zu oft zu hören. Doch schliesslich und endlich beugte er sich dem Fakt, dass Kunst oft dem kommerziellen Erfolg Platz machen musste – oder sagen wir es so: Filmmusik findet immer ihren Weg, wenn auch nicht immer so, wie es sich der Komponist vorstellt.

ZHIVAGO startet mit «Overture», die düsterere Zeit, in der der Film spielt, betonend. Erst mit «Main Title» eröffnet Jarre einen kurzen Reigen an Charakterthemen. Hier ist schliesslich auch zum ersten Mal das unvermeidliche «Lara’s Theme» zu hören. Danach ist im Film die Beerdigung von Yuris Mutter zu sehen, die Jarre traditionell mit orthodoxem Gesang untermalt. Im Film gibt es nun eine längere musikalische Pause, ehe ein Walzer erklingt, der die blutjunge Lara mit dem verführerisch hinterhältigen Komarovsky (grossartig: Rod Steiger) zeigt, während draussen in der Kälte erste «Flocken» der Revolution zu sehen sind. Die «Internationale» wird gesungen, was damals während des Drehs in dem von Franco diktatorisch und mit harter Hand geführten Spanien für einige Tumulte sorgte – Anwohner sehnten ob der Klänge eine Befreiung ihres unterdrückten Landes herbei und die Polizei erschien am Drehort. Komarovskys dunkle Seite ist in «Komarovsky with Lara in the Hotel» zu erahnen. Einen weiteren Walzer präsentiert Jarre mit «Sventitsky’s Waltz / After the Shooting». Es wird der letzte Walzer des Scores sein, der Zar wurde seines Amtes enthoben und die Revolution beendet das französisch anmutende Bonvivant der Aristokratie.

Die Jahre des ersten Weltkriegs werden mit unheilvollen, aber auch ruhmreichen Klängen der Revolution wiedergegeben, die schliesslich in «After Deserters Killed the Colonel» gipfeln. Erst nachdem sich Lara und Yuri während den Querelen des Krieges in einem aus dem Boden gestampften Spitals treffen und wieder trennen, ist Laras Thema zum ersten Mal ausführlich und schwelgerisch zu vernehmen: «Lara Says Goodbye to Yuri». Wieder in Moskau angekommen, trifft Yuri auf Tonya, mit der er eine Beziehung beginnt. Das Stück «Tonya Greets Yuri» ist ebenso wie «The Stove’s Out» und «Yevgraf Snaps his Finger» im Film nicht zu hören. Es folgen weitere Stücke auf der Turner-Classics-CD, die nur auf dem Album enthalten sind und die während der Bahnfahrt von Yuri, Tonya und deren Vater gedacht waren (um dem unter dem harschen Regime des Kommunismus leidenen Moskau zu entfliehen). Erst nach der Pause, «Intermission», die man dem Zuschauer damals bei einem so langen Film gönnte, nimmt David Lean Jarres Musik wieder auf als Yuri auf den ominösen Strelnikov trifft, der niemand anderes ist als Laras einstiger Verlobter Pasha. Die drei treffen schliesslich in Varykino ein, finden das Anwesen verschlossen vor und lassen sich im Nebenhaus nieder («Tony and Yuri Arrive in Varykino»). Hier begegnet die Musik einigen der schönsten Momente des Films, wenn Jahreszeiten vergehen, Yuris Sohn geboren wird und Yuri schliesslich im nahen Yuriatin wieder auf Lara trifft. Die Liebe (und das Thema) wird neu entfacht, während er zwischen Lara und Tonya hin- und hergerissen ist. Unvergessen ist Jarres wundervolle, ausschweifende Lara-Thema-Interpretation in «Yuri and the Daffodils». «Yuri is Taken Prisoner by the Red Partisans» beschreibt einen neuerlichen Einschnitt in Zhivagos Leben, bis Yuri während einer Schlacht auf seinem Pferd eine andere Richtung einschlägt und «Lara’s Theme» ertönt: «Yuri is Escaping». Lara und Yuri finden wieder zusammen und eine zweite, eine letzte Phase mit stimmungsvollen Bildern beginnt bis Yevgraf vom Tod der Verliebten berichtet und der Film mit «Then it’s a Gift» endet. Nicht viele Filmmusiken erfuhren derart viele Veröffentlichungen und Interpretationen (von swingigem Jazz bis Pop etc.) wie DOCTOR ZHIVAGO. Das Album, an das man sich halten sollte, ist die Turner Classic/Rhino Movie Music CD, welche nach wie vor erhältlich ist und am besten den Score wiedergibt, wie von Jarre erdacht. Und so ergibt sich eine Filmmusik, die ganz andere Facetten hervorbringt als es das allseits bekannte «Lara’s Theme» und die Verwendung dieses Themas von Lean im Film tut. Eine richtig schön aufgemachte Special Edition mit neuem Booklet wäre dennoch herzlich willkommen.

7.2.2021 (Dank an Basil für’s Gegenlesen)

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