Es mag den Umständen geschuldet sein, dass mich die Filmmusik von Kuzma Bodrov zum Film SOBIBOR (2018) so ergriffen hat. Die vergangenen Tage widmete ich mich der Lektüre «Mein Leben» von Marcel Reich-Ranicki (1920–2013). In diesem Buch schreibt der preisgekrönte und auch berüchtigte Literaturkritiker unter anderem von seinen Jahren im Warschauer Getto. Wenn auch diese Ausführungen grundsätzlich nicht neu sind, so war ich im Zuge dieser Lektüre emotional «vorbelastet». Als ich dann die CD zu SOBIBOR in den Player einlegte – die Synopsis des Films war mir bis zu jenem Zeitpunkt unbekannt –, war ich überrascht, wie sehr sie zu meiner damaligen Gemütslage passte. Der Blick ins Booklet lieferte schnell Antworten. SOBIBOR erzählt die Geschichte eines erfolgreichen Aufstandes im gleichnamigen KZ im Jahr 1943, womit ich mich auch filmmusikalisch im tragischen Holocaust-Thema befand. Komponist Kuzma Bodrov schrieb hierfür eine facettenreiche, respektvolle Filmmusik für Orchester und Kammerchor sowie Instrumental- und Gesangssolisten. Damit gelang dem 41-jährigen, kirgisischen Komponisten Bodrov ein beachtliches Filmmusik-Debüt für einen Spielfilm.
Nochmals kurz zur Synopsis: Während in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Treblinka – hierhin wurden unter anderem die Juden aus dem Warschauer Getto deportiert, wie Reich-Ranicki ausführt – ebenfalls im Untergrund vorbereitete Aufstände vorgefallen sein sollen, so war nur demjenigen vom 14. Oktober 1943 im KZ Sobibór ein gewisser Erfolg beschieden. «Gewiss» daher, da von den damals rund 600 internierten Personen die Hälfte fliehen konnte und hiervon wiederum rund 50 bis 70 Jüdinnen und Juden auch die Flucht überlebt haben sollen. Sprich, der erfolgreiche Aufstand forderte dennoch einen hohen Blutzoll. Das Vorgefallene war der nationalsozialistischen Führung dermassen ein Dorn im Auge, dass sie das KZ Sobibór auf Anweisung von Heinrich Himmler hin schliessen liess, es dem Erdboden gleich machte und auf dem Grundstück (zur Verschleierung?) Bäume pflanzte.
Diese Ereignisse wurden bereits 1987 im Rahmen einer dreistündigen britischen TV-Produktion thematisiert, doch mit SOBIBOR von Regisseur und zugleich Hauptdarsteller Konstantin Khabensky folgte 2018 erstmals eine russische Produktion hierzu.
Die Filmmusik von Kuzma Bodrov eröffnet mit dem stimmungsvollen, melancholischen «Prelude». Das hier dominierende Klavierspiel von Bodrov selbst greift auf intime Art und Weise slawische, folkloristische Klänge auf, die mit ihrer Melancholie bestechen. Im zweiten Teil wechselt das delikate Thema zwischen Klavier und Streichern hin und her. Dieses Thema ist auch in den späteren Stücken immer mal wieder zu hören, es bleibt aber kaum im Ohr hängen. Dies ist eigentlich auch die einzige Schwäche dieser Filmmusik, meiner Meinung nach: das Fehlen eingängiger Leitmotive. Sie sind da, aber sie vermögen nicht so sehr nachzuhallen wie beispielsweise Themen von James Newton Howard für DEFIANCE (2008) oder James Horner für THE BOY IN THE STRIPED PYJAMAS (2008) oder gar John Williams’ SCHINDLER’S LIST (1993). Klar, das sind krasse Vergleiche, können aufgrund der filmischen Thematik indes kaum abgeschüttelt werden. Stellenweise glaubt man sich auch an solche und ähnliche Arbeiten erinnert, wobei sich diese Gefühle eventuell auch nur rein von der thematischen Verwandtschaft her bei mir aufdrängen. Es ist nicht klar, ob von diesen Arbeiten allenfalls Teile im Temp-Track zu hören waren. Im Booklet lässt sich Komponist Bodrov zitieren, dass es einen passenden Temp-Track gegeben habe und dass er gebeten wurde, mindestens so stimmungsvolle oder noch besser Musik zu schreiben. Wie bereits erwähnt, aus welchen Stücken der Temp-Track bestand, ist mir gänzlich unklar. Neben vorgenannten Werken vermute in indes auch John Powells «A Prussian Requiem» aus dem Jahr 2016 darunter – insbesondere in Bezug auf den Einsatz der Stimmen und das wunderbare Stück «Runaway to Eternity», das markante Parallelen zu Powells Requiem aufweist.
Die Stärken dieser Arbeit liegen für mich daher mehr in den Klangfarben und in der Tatsache, dass Kuzma Bodrov sich eines so umfassenden Ensembles bedienen konnte. Er schreckt nicht davon zurück, mit seiner Musik – die während gerade mal zwei Tagen in Moskau aufgenommen wurde (das macht pro Tag durchschnittlich gut 27 Minuten Musik, was sehr viel ist) – unverschleierte Emotionen zu wecken. Von Komponisten wie Horner und Newton Howard gibt es bekannte Interview-Statements, dass sie hinsichtlich Musik zu Holocaust-Themen besonders zurückhaltend sein wollten, weil dick aufgetragenen Emotionen hier verfehlt seien. Ich teile diese Ansicht nicht unbedingt, solange der filmmusikalische Ansatz würdevoll und nicht pathetisch ist. Bodrov gelingt dieser heikle Spagat. Viele Musikminuten bauen auf zartes, ruhiges Klavierspiel, unterlegt mit Streichern. Dem Horror gibt er in den Stücken «The Path to the Unknown», «Execution» und «The Train of the Dead» Ausdruck, wobei hier stärker zum Einsatz kommende Synthi-Klänge das Grauen effektvoll, jedoch nicht laut einfangen. Zu den Highlights gehören der Chor in «The Gas Chamber», der berührende Sologesang in «Sadness and Despair», die Solovioline in «The Race of a Life», die zum Schluss hin sich aufbauenden hoffnungsvollen Klänge in «Alexander and Luca», das bereits erwähnte knapp 6-minütige Stück «Runaway to Eternity» und das reflexive, das Album beschliessende «In Memoriam». Fazit: Der Blindkauf der Filmmusik von Kuzma Bodrov für das Kriegsdrama SOBIBOR hat sich meiner Meinung nach vollauf gelohnt. Dieses Album ist eine ergreifende Überraschung und ich hoffe, dass wir von Bodrov auch künftig Filmmusik hören werden.
Basil, 18.6.2021
SOBIBOR
Kuzma Bodrov
KeepMoving Records
54:35 Min.
22 Tracks