Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000
Was findet eigentlich aus Frankreich noch den Weg in deutsche Kinos? Diese Frage ist wahrlich nicht mehr unberechtigt, wenn man bedenkt, daß inzwischen selbst ein großbudgetierter, mit französischen Stars besetzter (Juliette Binoche, Daniel Auteuil, daneben Jugoslawiens Szene-Regisseur Emir Kusturica) und vom versierten Patrice Leconte (LE MARI DE LA COIFFEUSE, RIDICULE) inszenierter Historienfilm wie LA VEVUVE DE SAINT-PIERRE dem deutschen Kinopublikum ganz einfach vorenthalten wird. Der deutsche Filmverleih UIP hat zwar die Rechte an dem Film, ihn aber nach den miserablen Besucherzahlen von EST-OUEST im Sommer vom ursprünglich vorgesehenen August-Starttermin wieder runtergenommen und ihn auf Eis gelegt. Anders ausgedrückt: im Giftschrank unter Quarantäne gestellt.
Immerhin ist es noch nicht soweit gekommen, daß ähnliche Prozeduren sich auch auf dem Soundtrackmarkt breitmachen und so darf der geneigte Filmmusikfreund doch wenigstens in den Genuß einer sehr intensiven sinfonischen Arbeit des Newcomers Pascal Estève kommen. Pascal wer? Nun ja, zugegeben, auch mir war dieser Name vor diesem Score nicht geläufig gewesen, und ich war deshalb umso mehr überrascht, welches Niveau dieser Mann über eine Distanz von 45 Minuten auf dieser CD anschlägt und durchhält. Wie man aus dem Booklet (natürlich alles in Französisch) erfahren kann, ist dies zwar Estèves erste Soundtrack-CD, nicht jedoch sein erster Film, da er für Leconte bereits 1994 dessen ziemlich gefloppten LE PARFUM D’YVONNE vertont hat.
Zusammen mit dem hervorragend spielenden Orchestre Philarmonique d’Ile-de-France unter der Leitung von Bernard Wystraete entwickelt Estève eine äußerst durchdachte, komplexe Partitur, die kaum zum Nebenbeihören geeignet ist, sondern konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert. Zwar bleibt er durchweg im tonalen Bereich, bereichert aber seine Komposition durch impressionistische Klangbilder jenseits gewohnter Schablonen und schreckt auch vor herben und schroffen Wendungen nicht zurück, ohne jedoch gleich auf große Blechbläserattacken oder Perkussionsknallereien im Stil der Amerikaner zurückzugreifen. Für das Verständnis der Musik mag außerdem wichtig sein, daß der Film auf einer kleinen französischen Kolonialinsel in Kanada in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt und daß es darin um eine heimliche Liebesgeschichte geht zwischen der Frau (Binoche) eines Kapitäns (Auteuil) und einem gutherzigen, reuigen Gefangenen (Kusturica), der im Rausch einen Mord begangen hat.
In stimmungsvoller und eigenwilliger Manier, teilweise mit summender Unterstützung durch einen bretonischen Sänger (Eric Voegelin), der zunächst befremdlich wirken mag, dann aber im weiteren Verlauf immer deutlicher poetische Züge annimmt, gelingt es Estève, auf musikalische Weise die Atmosphäre einer Meeresbrandung hervorzuzaubern. Man kann es förmlich spüren, wie die Meereswellen an die Klippen des Strandes schlagen, wie ein Schiff durchs Wasser gleitet oder wie sich klirrende Kälte über der Insel und dem Meer ausbreitet, ohne den Film überhaupt gesehen zu haben. Und das ist schon eine starke Leistung, wie ich finde! Im transparenten Streicher- und Holzbläsersatz mit solistischen Akkordeon-Passagen und in der elegischen Melodieführung wird der stilistische Einfluß eines Philippe Sarde besonders deutlich – ich persönlich mußte desöfteren an Sardes stimmungsvollen Score zu LE JUGE ET L’ASSASSIN (1976) denken, der ja ebenfalls im 19. Jahrhundert spielt -, in den eher spröden und dunkler timbrierten Stücken dagegen wird man an den Stil eines Antoine Duhamel erinnert. Dennoch besitzt Estève genügend originelles und originäres Eigenpotential, um zu überzeugen.
Im Großen und Ganzen eine schmerzliche, wehmütige Partitur, die sich sicher nicht gerade für Jubel- oder Freudenfeste eignet, sondern für Filmmusikfans gedacht ist, die das Besondere schätzen, ohne dabei auf emotional-melodische Klänge verzichten zu müssen. Ich bin jedenfalls schon gespannt und neugierig auf weitere Scores von Pascal Estève.
Stefan | 2000
LA VEVUVE DE SAINT-PIERRE
Pascal Estève
Emarcy
46:27 | 20 Tracks