Torn Curtain (La-La Land)

Für Filmmusikliebhaber ist klar: TORN CURTAIN ist der Urahn aller verworfenen Filmscores und der traurige Endpunkt einer einzigartigen Regisseur-/Komponisten-Zusammenarbeit. Zugleich dürfte Bernard Herrmanns Score die erste und auch einzige unbenutzte Filmmusik sein, die wiederholt neu eingespielt wurde. Zunächst von Elmer Bernstein, der auch «The Killing» in seine Herrmann-Adaption von CAPE FEAR für das gleichnamige Scorsese-Remake mit einbaute, später von Joel McNeely.

Mit «The Killing» verstiess Herrmann gegen eine von Hitchcocks Vorgaben, nämlich dass die unvergessliche Szene, wo der wegen irgendwelchen Geheimformeln für Waffensysteme nach Ostdeutschland eingeschleuste Doppelagent Michael Armstrong (Paul Newman) gemeinsam mit einer Farmersfrau seinen argwöhnischen Wachhund Gromek (Wolfgang Kieling) auf mühsame und langwierige Art und Weise umbringt, keine Musik enthalten sollte. Des weiteren verlangte Hitchcock modernere Rhythmen und ein einprägsames Liebesthema. Als Herrmann ungefragt sein eigenes Ding durchzog und allein fürs «Prelude» ein Orchester mit 16 Waldhörnern, 12 Flöten, neun Posaunen, zwei Tuben, acht Celli, acht Bässen, ein paar hohen Streichern und Kesselpauke auffahren liess, kam es zum nicht mehr zu kittenden Bruch der beiden Ausnahme-Künstler.

John Addison, der sich ein paar Jahre zuvor mit seinem Oscargewinn für TOM JONES profiliert hatte, übernahm, und obwohl auch sein Score nicht hypermodern gestaltet ist, fand er Hitchcocks Gunst. Mit einer elektrischen Bassgitarre nähert er sich der zeitgenössischen Agentenfilmmusik, eine Zimbel verbreitet osteuropäisches Flair. Ebenso das Hauptthema, das ein schwarzhumorig aufspielendes Saxophon ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und die Musik in ständiger Bewegung hält. Das reizende Liebesthema für Armstrong und seine Verlobte Sarah Sherman (Julie Andrews) im Walzertakt bewegt sich oft im Bereich von «British Light Music», ist aber auch im Umfeld von Spannung, Tragik und Dramatik zu finden.

Musikalische Schwergewichte sind «The Murder of Gromek» (ja, auch Addison fertigte für die Szene Musik an, die indes ebenfalls nicht verwendet wurde) und das dreiteilige «Escape on the Pi Bus», wo das Hauptthema in einer Gesamtlänge von über 10 Minuten die flüchtenden Protagonisten in einem gefakten Linienbus begleitet, der wegen des von hinten immer näher kommenden, regulären Busses jederzeit auffliegen kann. Auf CD ist dieser stetige Spannungsaufbau, der in ein paar Momenten an Ravels «Bolero» erinnert, höchst effektiv, im Film aber eher des Guten zuviel.

Im Vergleich zum alten, 30-minütigen LP-Programm, das sich hauptsächlich auf Haupt- und Liebesthema konzentriert und daher recht repetitiv wirkt, ist der zwanzig Minuten längere, komplette Score stimmungs- und abwechslungsreicher, geht mehr in die Tiefe und wird damit Addinsons Musik deutlich gerechter. Sie gehört zwar auch so immer noch nicht zu den besten Hitchcock-Filmmusiken, verdient aber mehr Respekt, als sie bisher allgemein bekommen hat.

Als krönenden Abschluss enthält die CD die Viertelstunde Musik, die Herrmann bereits aufgenommen hatte und die hier nun meines Wissens ihre offizielle Premiere erhält. Mit Ausnahme von «The Killing» handelt es sich dabei um die Vertonung des ersten Drittels des Films. Zusammen mit «Prelude» ist «The Killing» ein Paradebeispiel für Herrmanns ungebrochene Begeisterung für ebenso mächtige wie eigenwillige, den Zuhörer augenblicklich in ihren Bann ziehende Orchestrationen. Sie stechen zusammen mit den Jagdhörnern von «The Hotel» heraus aus der mysteriösen, klaustrophobischen und etwas trostlosen Grundstimmung der übrigen Tracks, mit der Herrmann wohl die beklemmende, unterschwellige Bedrohung des Kalten Krieges hervorheben wollte. Es gibt übrigens DVD- und Bluray-Veröffentlichungen von TORN CURTAIN, wo man sich in den Extras alle entsprechenden Szenen mit Herrmanns Musik ansehen kann. Und im Making Of sind auch Ausschnitte des Gromek-Mordes enthalten, die mit Addisons Musik unterlegt sind.

Dank dieser CD von La-La Land Records lernt man einen sehr gefälligen Addison neu schätzen, und Herrmanns eigene Interpretation von TORN CURTAIN ist filmmusik-historisch natürlich sehr bedeutsam, selbst in dieser Kurzform. Ein 24-seitiges Booklet mit einem lesenswerten Text von Jeff Bond rundet die vortreffliche Veröffentlichung ab.

Andi  |  04.07.2024

TORN CURTAIN
John Addison / Bernard Herrmann
La-La Land Records LLLCD 1648
74:51 Min. / 34 Tracks
Limitiert auf 3000 Stk.