Mit dieser Neueinspielung von THE MAN WHO KNEW TOO MUCH wird die letzte Lücke im Schaffen von Bernard Herrmann und seiner Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock endlich geschlossen und damit das gemeinsame Werk der beiden Ausnahmekünstler komplettiert. Beim Remake seines eigenen Films von 1934 manövriert der Regisseur James Stewart und Doris Day während ihres Marokko-Urlaubs in ein internationales Mordkomplott, dessen Ziel die Ermordung eines Premierministers während eines Konzerts in der Londoner Albert Hall ist. Damit das Ehepaar sein zufällig erworbenes Wissen darüber nicht preisgibt, wird ihr kleiner Sohn entführt.
Wie schon im Original, erreicht der Spannungsbogen auch in der 1956er-Fassung während der Aufführung von Arthur Benjamins «Storm Clouds Cantata» seinen Höhepunkt, wenn der Attentäter seinen tödlichen Schuss passgenau mit einem markanten Beckenschlag abgeben soll. Hitchcock liess Herrmann die Wahl, hierfür eigene Musik zu schreiben, aber für den Komponisten war Benjamins Stück punkto dramatischer Steigerung nicht zu toppen. Er schraubte lediglich etwas an dessen Orchestration herum und nahm ein paar Verlängerungen von. Im Film ist er übrigens höchstselbst als Dirigent des Stücks zu sehen.
Wie es hätte klingen können, hätte sich Herrmann anders entschieden, deutet sich im konzertanten, mit beklemmender Wucht daherkommenden «Prelude» an, das während des Vorspanns live vorgetragen wird. Im Fokus stehen insbesondere die Kesselpauken und am Schluss – das bedeutende Plot-Element vorweg nehmend – ein fulminanter Beckenschlag. Die hier wirkenden Orchesterkräfte sind beeindruckend: unter den 90 Musikern befinden sich 11 Perkussionisten, acht Waldhörner, sechs Trompeten, sechs Posaunen und zwei Tuben.
Repräsentativ für den weiteren Verlauf des Scores ist dies jedoch nicht, denn fortan bäckt Herrmann kleinere Brötchen, verwendet mal nur ein paar Klarinetten und Harfe, mal nur Violinen, mal nur tiefe Streicher. In den Marokko-Szenen wird dezent-exotisch im Hintergrund aufgespielt, ansonsten verlässt sich Herrmann in meist eher kurzen Tracks auf sein angeborenes Gespür für gepflegte Spannung und auch mal mit etwas Humor angereicherte Dramatik. Es werden sogar noch ein paar unverwendete Cues geboten, die dem ebenfalls zum Plot beitragenden, oscarprämierten und von Evans/Livingston stammenden «Que Sera Sera» weichen mussten, das zum bekanntesten Lied von Doris Day werden sollte. Etwas überraschend ist indes die Tatsache, dass Herrmann die letzten fünf Töne des Songs von Hörnern intoniert in sein ebenfalls nicht benutztes «Finale» einbaute, was diesem eine leicht beschwingte Note verleiht. In der Filmversion werden einfach die letzten 20 Sekunden des «Prelude» nochmals verwendet.
Die CD konzentriert sich ausschliesslich auf Herrmann, mit Ausnahme von Nathan Van Cleaves Fanfare für das Paramount VistaVision-Logo. Die «Storm Clouds Cantata» und «Que Sera Sera» wurden hingegen weggelassen. Der Score kommt damit auf eine Spielzeit von 29 Minuten und zeigt auf, dass THE MAN WHO KNEW TOO MUCH – wie jede einzelne Filmmusik, die Herrmann für Hitchcock geschrieben hat – seinen ganz eigenen Charakter hat.
«The Death Hunt» gehört zu den grössten Kabinettstückchen in Bernard Herrmanns Karriere und war sein erklärter Lieblings-Cue aus ON DANGEROUS GROUND (1951). Und vielleicht einer der Hauptgründe, warum man sich an diesen, immerhin von Nicholas Ray inszenierten Film Noir zumindest in Filmmusikkreisen überhaupt noch erinnert. Nie um aussergewöhnliche Orchestrationen verlegen, beschäftigt Herrmann hier neun Waldhörner, zum Teil gestopft, um quasi einen Doppler-Effekt zu erzielen. Zu ihrem frenetischen Spiel gesellen sich Streicher und weitere Blechbläser sowie brachiales Schlagzeug wie Amboss und Bremstrommeln, um die gnadenlose Menschenhatz durch verschneite Berglandschaften mit angemessener Aggressivität und Panik zu unterlegen.
Der Jäger ist der abgestumpfte Grossstadt-Polizist Jim Wilson (Robert Ryan), der wegen seiner Brutalität Kriminellen gegenüber aufs Land geschickt wird, um den Mord eines Mädchens aufzuklären, der Gejagte ist der junge Danny Malden (Sumner Williams), in dessen blinde Schwester Mary (Ida Lupino) sich Wilson verliebt. Für sie ist denn auch das zweite denkwürdige Element des Scores bestimmt: das innige wie melancholische Spiel einer Viola d’amore, deren dunkles Timbre die eher hoffnungslose Natur dieser Beziehung ganz wundervoll wiedergibt.
Hervorzuheben sind ausserdem die frühen «Solitude» und «Nocturne», wo eine bluesige Trompete einsame Grossstadt-Stunden heraufbeschwört und ein wenig schon TAXI DRIVER vorweg nimmt. «Pastorale» enthält, durchmischt mit typischen, düsteren Herrmann-Streichern, kleine Holzbläser-Motive à la Vaughan Williams, in «The Snowstorm» sind die ersten und zweiten Violinen mit anspruchsvollem Spiel und heiklen Wechseln zwischen den Gruppen gefordert. Diese Tracks setzen alle ihre eigenen Stimmungs-Akzente und erweisen sich als unverzichtbare Bestandteile eines klug durchdachten Scores, dessen brillante Struktur dank dieser splendiden Neuaufnahme erstmals so richtig wahrgenommen werden kann.
Die jüngste Kickstarter-Produktion von Intrada lässt praktisch keine Wünsche offen. Das Royal Scottish National Orchestra und Viola-d’amore-Solist Huw Daniel spielen tadellos unter William T. Stromberg, der zusammen mit seiner Frau Anna auch die Musik rekonstriert hat, für die Aufnahme zeichnete Toningenieur-Veteran Mike Ross Trevor verantwortlich, für die Liner Notes die Herrmann-Koryphäe Steven C. Smith. Einzig die Cover-Gestaltung kann da qualitativ bei weitem nicht mithalten, aber wem wäre schon der umgekehrte Fall lieber?
Andi | 02.07.2023
THE MAN WHO KNEW TOO MUCH / ON DANGEROUS GROUND
Bernard Herrmann
Intrada INT 7176
73:28 Min. / 42 Tracks