1945 war ein bedeutendes Jahr für Miklós Rózsa. Sowohl Spellbound als auch The Lost Weekend wurden Oscar-nominiert, und für seine einzige Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock heimste er schliesslich seinen ersten Academy Award ein. Darüber war der Komponist nicht ganz glücklich, denn für ihn hatte Spellbound zwar das populärere Hauptthema, The Lost Weekendaber war eindeutig der überzeugendere Score. Wer wäre ich, ihm da zu widersprechen.
Billy Wilder drehte mit The Lost Weekend einen für seine Zeit ausserordentlich mutigen Film, der schonungslos offen die Alkoholsucht des Don Birnam (hervorragend verkörpert von Ray Milland) und deren katastrophale Folgen behandelt. Zuviel für das damalige Publikum, das Betrunkene auf der Leinwand bis anhin mit tollpatschigen und komischen Gesellen gleichsetzte und daher den Film bei Testvorführungen gnadenlos abstrafte.
Für Rózsa war der Temptrack mitverantwortlich für die negativen Reaktionen, denn der enthielt, da der Film in New York spielt, gängige, gershwineske Grossstadtmusik, die eher eine Komödie als ein Drama suggerierte und das Publikum zusätzlich verunsicherte. Als der Film dann aber mit dem endgültigen Rózsa-Score in die Kinos kam, schien er wie verwandelt, die Kritiker waren des Lobes voll, die Einspielergebnisse gut.
The Lost Weekend ist ein exquisiter Vertreter aus Rózsas Film-Noir-Phase. Fast ständig sind in dieser düsteren, kraftvollen und intensiven Musik das verhängnisvolle Verlangen und die Verzweiflung Birnams zu spüren, und Gefühle von Hoffnungslosigkeit machen selbst vor dem oft von einer Solovioline vorgetragene Liebesthema, das Birnams verständnisvolle Freundin Helen repräsentiert, nicht Halt. Lediglich das pastorale Thema für die Skyline New Yorks ‒ alles andere als gershwinesk ‒ vermag diese Trostlosigkeit kurzzeitig etwas zu durchdringen.
Nebst diesen Themen dominieren vor allem das schicksalsschwere Hauptthema und das dem Wahnsinn nahe Motiv für Birnams Alkoholabhängigkeit, das gerne den surrealen Klängen des Theremin ‒ von Rózsa, der dieses frühe Elektronikinstrument kurz zuvor in Spellbound in ähnlicher Funktion einsetzte, als «Sprachrohr der Geistesstörung» bezeichnet ‒ anvertraut wird.
Zwei Tracks sollen hier besonders hervorgehoben werden, weil sie zu den Höhepunkten des Scores gehören und demzufolge auch in Neuaufnahmen u. a. von Rózsa selbst und Charles Gerhardt existieren. The Walk unterlegt die vielleicht berühmteste Sequenz des Filmes und begleitet Birnams erfolglosen Versuch, an einem jüdischen Feiertag einen Pfandleiher an der Third Avenue zu finden, um Geld für seine Schreibmaschine zu bekommen. Die Sequenz geht nicht nur wegen Rózsas Musik extrem unter die Haut, sondern auch wegen der ungekünstelten Realität rund um Milland, die von versteckten Kameras eingefangen wurde. Der Film enthält eine überarbeitete, mit dem Alkohol-Thema ergänzte Version des Cues, dessen Originalfassung in den Extras dieser CD enthalten ist.
In Dawn/Nightmare träumt Birnam während eines Delirium tremens von Mäusen mit und ohne Flügel; das fängt musikalisch zunächst zwar ganz harmlos an, wirkt mit nachgeahmten Tierlauten sogar humorvoll, aber der damit verbundene Horror, den Rózsa danach entfesselt, lässt einen immer wieder erschaudern und zweimal überlegen, ob man übermässig zur Flasche greifen soll.
Für Golden-Age-Fans ist diese Intrada-CD ein ziemliches Ereignis, denn obwohl der Score zu The Lost Weekend in seiner originalen Filmeinspielung ‒ wenn auch nicht offiziell ‒ schon ein paar Mal veröffentlicht wurde, war er noch nie so umfangreich und klanglich sauber restauriert zu haben wie jetzt. Und bereits wird im Booklet der nächste Film-Noir-Score Rózsas angekündigt, nämlich der meines Wissens bislang komplett unveröffentlichte Desert Fury. Freude herrscht.
THE LOST WEEKEND Miklós Rózsa Intrada Special Collection ISC 321 68:26 / 22 Tracks