Tess / Le Locataire

Review aus The Film Music Journal No. 25, 2001

Oft ist heutzutage in CD-Besprechungen die Rede vom Filmmusik-Klassiker – ein Begriff, der inzwischen viel zu diffus geworden ist und bei näherem Betrachten oft Belangloses und Halbgares enthüllt. Ganz und gar nicht jedoch bei dieser CD mit zwei Soundtracks von Philippe Sarde, die ich jedem an sinfonischer Filmmusik Interessierten unbedingt ans Herz legen möchte. Wenn man schon von einem ins Soundtrack-Pantheon eingegangenen Score sprechen will, dann vor allem von Sardes Musik zu Roman Polanskis dreistündiger Thomas Hardy-Verfilmung TESS (1979), für mich eine der schönsten je komponierten Filmmusiken, die auf dieser CD nun mit 37 Minuten Musikanteil verewigt wurde, nebst 21 Minuten des bisher überhaupt nicht auf Tonträger dokumentierten kammerspielartigen Polanski-Psychothrillers LE LOCATAIRE (1976). Von TESS gab es bisher ein französisches LP-Klappalbum auf Philips von 1979 und eine amerikanische LP-Pressung auf MCA von 1981, die sich vom Inhalt leicht unterschieden.

Für die jetzt vorliegende französische Universal-CD wurden die Tracks beider LPs miteinander verknüpft und glücklicherweise der weder von Sarde noch aus dem Film selbst stammende Pop-Song, der seltsamerweise für die US-Scheibe aufgenommen worden war, weggelassen. Irritierend ist zunächst beim Hören der CD, daß der Score nicht mit der eigentlichen Titelmusik (Track 9: «Procession»), sondern mit der Pausenmusik des Films («Tess») anfängt, folglich auch mit einem ganz anderen Thema, als wie man es zumindest von der französischen LP her gewohnt ist. Eine mögliche Vermutung wäre, daß dies eine Entscheidung von Sarde selbst war, um so einen reibungsloseren musikalischen Fluß zu gewährleisten.

Bei TESS handelt es sich um den seltenen Fall einer formstrengen Literaturverfilmung, die ihre Vorlage nicht verrät und trotz schwelgerischster Bildästhetik zu keinem Zeitpunkt in kitschiges Kunstgewerbe ausartet, vielmehr durch den langsamen Rhythmus der Bilder und die subtile, sehr zurückhaltende Inszenierung eines der bewegendsten Filmerlebnisse darstellt. TESS spielt im viktorianischen England und handelt von einem Bauernmädchen (Nastassja Kinski), das an den sozialen Konventionen der Zeit zerbricht – vom einen Mann, ihrem reichen Cousin Alec d’Urberville, wird sie vergewaltigt, vom anderen, dem Pfarrerssohn Angel Clare, im Stich gelassen, bis der sich, schon zu spät, eines Besseren besinnt.

Sarde hat diese Geschichte in ein traumhaft zu nennendes sinfonisches Tonpoem von wahrhaft epischem Atem verwandelt. Er arbeitet mit dem großen Klangkörper des London Symphony Orchestra und versteht es gleichzeitig, für fantastische impressionistische Klangfarben und einen durchgängig transparenten Tonsatz zu sorgen. Nie ist die schwelgerische Instrumentierung trotz des 100- Mann-Orchesters zu dick aufgetragen oder zu überladen, vielmehr funkeln und schimmern die Sarde-typischen Streicher glanzvoll wie ein kostbarer Smaragd. Auf zwei ergreifenden gefühlvollen Themen, die im Verlauf des Scores in verschiedenen orchestralen Gewändern immer wieder auftauchen, ist die ganze Partitur aufgebaut. Sarde selbst hat diese beiden Leitmotive mal in einem Interview als ‹falsches› und als ‹echtes› Liebesthema bezeichnet, weil sie sich in ihrem Melodieverlauf zwar durchaus ähneln, aber andere Richtungen einschlagen.

Ersteres beschreibt die Beziehung zwischen Tess und Alec: Es ist ein pastoral geprägtes, sehnsuchtsvolles Thema mit aufsteigender Melodielinie («Procession»), die aber keine Erfüllung findet, sondern die Aufwärtsbewegung wieder abbricht und sozusagen in sich kreist. Anders dagegen das Thema für Tess und Angel, wie wir es in «Tess» oder am schönsten im langen Final ab etwa 1:00 hören können, wenn beide ihr kurzes Glück in einer verlassenen Villa finden: Wiederum eine sich aufwärtsbewegende, zugleich tragisch und hoffnungsvoll klingende Melodie, die mal den Streichern und mal den Holzbläsern anheimgegeben wird – aber im Unterschied zum ‹falschen› Liebesthema strebt die Bewegung tatsächlich immer weiter nach oben, bricht nicht ab, sondern erreicht, wenn auch nur kurz, das angestrebte Ziel. Allein in einer solch beredten musikalischen Konzeption zeigt sich, wie genau und wie einfühlsam Sarde die Seele des Films traumwandlerisch eingefangen hat. Ganz zu schweigen von den wunderbar warmen Orchesterfarben, die er mit Hilfe von Zimbel, Harfe, Glockenspiel und diversen solistisch eingesetzten Holzbläsern über die gesamte Länge des Scores erzeugt. Und das superb aufrauschende Finale kann man durchaus als Hommage an Meister Miklós Rózsa werten, wie auch das frisch rhythmisierte «La visite chez d’Urberville» (Tess› Fahrt mit der Kutsche zu ihren Verwandten), das sehr stark an den «Passepied»-Tanz aus Rózsas MADAME BOVARY erinnert.

Fazit: ein sinnliches Hörerlebnis allerersten Ranges! Gegenüber dieser klagenden Lyrik ist der zweite Score auf der CD weitaus experimentellerer und modernerer Natur. Bewaffnet mit einem kammermusikalischen Ensemble, in dem hauptsächlich Klarinette, Glassharmonika und Bassflöten dominieren und für dunkle Klangfelder sorgen, ist dies einmal mehr eine musikalische Entdeckungsreise à la Sarde. Unkonventionelle Reibungen entstehen, die ab und zu an Herrmanns PSYCHO (1960) gemahnen, und geradezu obsessionell die kafkaesken Alpträume der von Polanski selbst gespielten Hauptfigur Trelkovsky schildern, wobei das melancholische Klarinettensolo im Vorspann («Coeur d’immeuble») und im Finale («Le locataire») die Einsamkeit dieses labilen Menschen musikalisch umsetzt. Eine interessante Partitur von beeindruckender Ausdruckskraft, atmosphärischer Dichte und Prägnanz, obwohl natürlich in absolutem Kontrast zur romantischen Klangsphäre von TESS stehend.

LE LOCATAIRE mag sicher nicht jedem behagen, aber allein wegen TESS sollte jeder Fan sinfonischer Filmmusik hier zugreifen. Wie üblich bei den französischen Universal-Editionen ist das umfangreich 16-seifige Booklet mit Statements von Sarde über seine Scores angereichert und enthält mehrere, zum Teil farbige, Fotos aus beiden Filmen. Auch hier gilt: eine Bereicherung für jede Soundtrack-Sammlung.

Stefan | 2001

TESS
LE LOCATAIRE
TESS / LE LOCATAIRE

Philippe Sarde

Universal France

58:34 | 22 Tracks