von Manfred Schreiber
Gemütlich geschrieben, realistische Figuren, kraftvolles Bilder-Handwerk, es fliegen Fetzen und Popcorn: Kaum jemand konnte 1976 ahnen, dass noch sehr viel mehr in der Tüte drin ist. Rocky-Filme fühlen sich an wie filmisches Zuhause. Natürlich steuert es auf den einen oder anderen Fight zu, doch entscheidend sind die Menschen, die man unterwegs trifft. Da würde uns z.B. ohne Rockys Kumpel und späteren Schwager Paulie (Burt Young) wirklich jemand fehlen. „Schläger von Philadelphia“, „Italienischer Hengst“, träumender Geldeintreiber: Rocky Balboa – was für eine Rolle, welch Hollywood-Märchen, die Welt dankt. Boxsport, so Stallone, dient als visuelle Metapher auf Hindernisse im Leben. Ein Underdog kriegt es irgendwie hin – zugegeben, Balboa ist mit Herz und Wille unterwegs in den Strassen Philadelphias. Natürlich mag man dabei sein. Persönliche Boxerfahrung ist für Kinogänger, Videoliebhaber oder Streaminghelden nicht nötig, um im Rocky-Mikrokosmos vorbeizuschauen.
1976: ROCKY – ein Film von John G. Avildsen
„Kanarienvögel / bunte Zuckerwatte“ – Gelegenheits-Boxer Rocky Balboa sinniert zielstrebig in Anwesenheit seiner umworbenen, schüchternen Adrian (Talia Shire). Liebenswert, alle beide – welch schön-holprige Runden im Eisstadion nach Feierabend. Zuvor bietet Rocky alles auf, um Adrian überhaupt dorthin mit nehmen zu können – eine der wichtigsten Szenen dieser Epoche. Rockys winzige Bude mit Schildkröten, dem Kinderfoto, Eiswürfeln und legendärem Roheishake. Charmantes Sozialdrama, Balboa immer mit Hut und Tennisball für Koordinationsübungen auf den Beinen. Verschwitzt, verwaschen, zerknittert, verdreckt, Malocher und Verlierer überall. Rockys deutsche Synchronstimme, Jürgen Prochnow, liefert Bandbreite rauf und runter. Dialog-Zünder zwischen Rocky und Coach Mickey (Burgess Meredith), legendär – Zitat: “…ich muss leben!“ / Du verschwendest dein Leben!“ Für Rocky geht es darum, als Ersatzgegner die Distanz von 15 Runden gegen Boxschwergewichtsweltmeister Apollo Creed (Carl Weathers) durchzustehen. Komponist Bill Conti schuf mit dem Soundtrack ein Stück All-Time-Favorite-Package, gern gespielt, nicht nur in stickigen Muckibuden. „Philadelphia Morning“ (Track 2 der Filmmusik-LP) stellt die erwachende Stadt und Rocky als Seelenverwandte vor. Silhouetten von Adrian und Rocky auf dem Soundtrack-Cover – warm ums’ Herz.
1979: ROCKY II – Sylvester Stallone führt Regie
Stallone wirft seinen Helden nach Anfangstriumph wieder zurück in das Underdog-Viertel des Vorläufers: Schlachthaus-Szenen zeigen unromantische Arbeiterklasse und einen, der immer noch das Herz hat, sich da raus zu boxen. Tolle Momente mit Rocky im Keller am Sandsack, soeben joblos geworden und seiner großen Liebe Adrian, die ihm vorschlägt selbst wieder Geld verdienen zu wollen. Heiratsantrag im verschneiten Zoo, deprimierender Commercial-Dreh, Mickeys Treppenhaus-Lektion, Lesen lernen, die Hochzeit, das Baby, Adrians Koma – der 2. hat vieles im Gepäck. Auch Privatleben vom Champ Apollo Creed (2015 hören wir dann mehr). Es entwickelt sich, spätestens beim Final-Fight Rocky vs. Apollo: Leinwand-Boxkämpfe werden ab sofort akustisch und choreographisch komplett anders gedreht.
1982: ROCKY III – Regiestuhl reserviert für Stallone
Straight auf Blockbuster getrimmt: Das Lookback-SlowMo-Opening bleibt unerreicht. „Eye of the Tiger“, der Hit von Survivor, unzerstörbar – man braucht kein Feuerwerk mehr im realen Leben, die Montage zum Song kann es besser. Paulies Uhr, die Champ-Statue, die öffentliche Demütigung, Good bye Mickey Goldmill, der Motorradhelm, Weltstars Rocky und Apollo nachts in schäbiger Trainingshalle – nicht wurzellos. Noch ein Highlight: Showkampf Rocky vs. Thunderlips (Hulk Hogan, „Berg aus geschmolzener Lust“) – monströse Shots von Kameramann Bill Butler (JAWS). Synchronisiert wird Stallone von Thomas Danneberg, die 80er-Action-Stimme. Wegen Kampf-Realismus geht man nicht in Rocky-Filme… – blutige Runden ziehen sich extrem, wenn Rocky gegen seinen wütenden Angstgegner Clubber Lang (Mr. T) durchhalten muss. Heile Welt: Im Outro sind Apollo und Rocky längst dicke Kumpels. (zur CD Rezi…)
1986: ROCKY IV – Regie-Dauerkarte auf den Namen Stallone
Alle Dämme brechen beim Intro: Detonierende Hammer-und-Sichel-vs.-US-Boxhandschuh-Raketen prallen gegeneinander – sehr politisch auf einmal. Ex-Champion Apollo Creed will gegen den sowjetischen Athleten, Hauptmann Ivan Drago (Dolph Lundgren), im Ring nochmal alles zeigen – für Fans und Medien bloß ein Schaukampf, für Apollo nicht. Die finster dreinblickende Sport-Delegation „aus dem Reich des Bösen“ verpackt es zwar freundlich, möchte aber ein Exempel statuieren. Auf amerikanischem Boden. Sowjets wollen sich endlich Gehör verschaffen. Sportlich, versteht sich. Der miefig-sympathische Touch von 1976 – als hätte es ihn nie gegeben. Da wirkt die Apollo-und-Rocky-im-Schmalfilmarchiv-Szene, wo beide ihren ersten Fight sichten, angenehm retro. Sogar ein sprechender Roboter mit Telefonfunktion und Jukebox gleitet durch Balboas Villa: Geburtstagspräsent für den muffeligen Onkel Paulie. Apollo verliert sein Leben im Ring gegen Drago – nicht nur „Sibirischer Totengräber“ könnte dessen Künstlername lauten, auch „Blonder T-800“ wäre passend. Musikbeauftragter Vince DiCola spart natürlich nicht mit Synthies: 80er-Workout-Power plus laufen, laufen, laufen, rauf bis zum Gipfel. Sounddesign-Overkill: Schlimme Treffer steckt Rocky da eben mal weg – sein „Kampf des Jahrhunderts“ mit Drago, um Apollo zu rächen, endet mit Publikums-U-Turn und etwas vorhersehbarem K.O. Ein emotionaler Appell in die TV-Kameras zum friedlicheren Miteinander der Systeme beschliesst das 4. Kapitel und macht Rocky Balboa nebenbei zum Weltpolitiker – brauchen konnte man das Mitte der 80er auf jeden Fall.
1990: ROCKY V – Regie-Rückkehrer Avildsen hat gut zu tun
Der schwierige Film in dieser Reihe: Vier Jahre Echtzeitabstand zum „Kampf des Jahrhunderts“, jedoch direkt anschliessend zum ROCKY IV-Finale, unser Hero schwer gezeichnet, zum Glück ist Adrian da. Der 5. zeigt, was immer geschehen kann: Umjubelter Tausendsassa verliert durch fremden Einfluss alles Materielle. Oben drauf gibt es für Rocky den ärztlichen Rat, nie wieder zu boxen. Ein Kerl, der von Rocky unbedingt trainiert werden will, Tommy „The Machine“ Gunn (Tommy Morrison) – die damit einhergehende Entfremdung von Rockys eigener Familie: So darf das Märchen nicht ausklingen. Und polternde Boxpromoter, die dicke Geschäfte riechen, können wahrlich nerven. Sehr lange fühlt man Leere, nach einer miesen Strassenklopperei zwischen Rocky und eben diesem Kerl, der es doch nicht verdient hatte, Balboas Nähkästchen zu plündern. Was nur für ein Script könnte den nächsten Balboa-Film sehenswert machen? Geduldiges Abwarten, darin übte man sich. Obwohl ja durch die Abspann-Fotos, welche das ROCKY-OEuvre von 1976 bis 1990 bebildern, klar suggeriert wird: Das war’s hier.
2007: ROCKY BALBOA – Filmemacher Stallone is (Take you) back
Da isser’ wieder, der Typ aus den 70ern – sogar mit seinen Schildkröten! Und klüger als je zuvor, Stallones Schmunzel-Logik (Rocky-Zitat: “…ah, Jamaica, Europa!“). So viel Gefühl – so war es immer zwischen Adrian und Rocky. Und jetzt sitzt Rocky gealtert an ihrem Grab. Seinen Klappstuhl schleppt er nicht hin und her, da ist er praktisch und steckt ihn gleich oben in den Baum. Beim Verlassen des Friedhofs winkt Rocky Adrian zu. Gänsehaut. Später fahren die zwei älteren Herren Rocky und Paulie manchen Erinnerungsplatz ab, nehmen uns mit durch ihr Philadelphia. Für den guten Paulie ist diese Tour unbequem, er hat seine Gründe. Das abgerissene Eisstadion – wieder so viel Gefühl. Balboa ist jetzt Restaurantchef, der Laden heisst natürlich „Adrian’s“. Virtuelle Zeitwende ist im Rocky-Universum installiert, niemand wird jünger: HBO-Fight-Szenen (story-relevant erklärt) setzten collagen-stylish auf volles Rohr, HD-Kontrast zum ehrwürdig-schmuddeligen Rocky-Strassen-Film-Setting. Balboa ist es völlig Schnuppe, ob er nach Punkten verloren hat – sein Abgang aus der Arena: Der Lohn der Jahrzehnte.
2015: CREED – von Ryan Coogler
Rocky’s-Legacy-Spin-Off-Time: Geschlagene Neununddreissig Jahre zuvor blätterte Boxweltmeister Apollo Creed wütend sein Karteibüchlein durch, auf der Suche nach einem passenden Ersatzgegner. Creed senior wurde rasch fündig: Rocky „The Italian Stallion“ Balboa – gegen den wollte Apollo am Unabhängigkeitstag Showtime bieten. Zuerst Kontrahenten, dann Freunde, der Rest ist Geschichte. Fast vier Jahrzehnte später: Creed junior, Adonis (Michael B. Jordan), kämpft in irgend welchen Löchern in erster Linie gegen sich – schweres Erbe im Gepäck. Geschmeidiger kann man den 70er-80er-Jahre-Mythos Rocky Balboa nicht vercrossovern – es funktioniert. Die Story bekommt Substanz, weise Dialoge und präsentiert verdammt gute Schauspieler. Mit Adonis’ Freundin Bianca (Tessa Thompson) gewinnt das Ganze noch mehr: Sie ist keine Deko, die untergehen könnte zwischen Granit Stallone und Fighter Jordan – ihre an Gehörverlust leidende Songwriterin Bianca, wichtig für den ganzen Film. Immer noch Charme haben diese echten Stallone-Textzeilen (u.a. zum Thema: Cloud-Upload – köstlich!). Rocky trainiert den Sohn seines verstorbenen Freundes, lange Einstellungen, schöne Bilder im „Adrian’s“, es schmerzt, den krebskranken Rocky sehen zu müssen. Blutige Details beim Kampf Creed vs. Conlan. Neue Ära und klassisches Rocky-Feeling birgt Ludwig Goranssons CREED-Soundtrack, interessante Mixtur. Am Ende müht sich Rocky seine Stufen hinauf, unterstützt von Adonis. Standing Ovations. (zur CD Rezi…)
2018: CREED II – von Steven Caple jr.
Nie und nimmer würde man Ivan Drago nochmals begegnen – ROCKY IV: Es war einmal, irgendwo zwischen NDW, Bravo, Pickeln und BMX-Rädern. Das CREED II-Script will es so: Dolph Lundgren kehrt zurück und gibt Drago senior endlich Charakter (in ROCKY IV konnte man, milde gesagt, zu wenig davon sehen). Geliefert wird Retrotouch, Moderne und Liebe zum Detail. Die Beziehungen um Balboa herum reifen – es ist immer noch Popcorn, aber mit Zauber-Rezept. Der Rocky-Reigen, seit 1976 auch Ensemble-Film-Marathon. Viktor Drago (Florian Munteanu) wird von seinem auf Rache getrimmten Vater zum erneuten Über-Gegner aufgebaut. Denn, schlecht lief es, seit Ivan Drago einst am 25. Dezember 1985 vor heimischen Sowjet-Publikum gegen Rocky verlor. Adonis tritt an – wieder in Moskau, gegen den Sohn des Ivan Drago. Einige Dialoge mehr hätten den Dragos heute auch gut getan – so bleiben sie wenigstens ganz am Schluss, gemeinsam trainierend, in besserer Erinnerung. Natürlich hat Thomas Danneberg die kernige Wahrnehmung von Stallones Rollen, speziell am deutschsprachigen Markt, enorm geprägt. Dass ab CREED II die Synchro gewechselt werden muss „sorgt natürlich für Aufruhr“ – wobei: Die Welt dreht sich. Jürgen Prochnows leiser Wiedereinstieg (der Kreis wird geschlossen) gibt viel zurück: Rocky ist ein gebeutelter Mann über siebzig – dies arbeitet Prochnow für die Ohren fein heraus. Stallone kreierte diese Figur und deren Umfeld vor so langer Zeit: Hut ab.
Coming soon: ROCKY vs. DRAGO – Ultimate Director’s Cut
Zackboing – why not: ROCKY IV, 2021er-Zeitreise ins 1985er-Hochglanz-Zirkuszelt. Natürlich wird da reingeschaut – allein schon, weil man wissen möchte, was denn nun Onkel Paulies Geburtstagsgeschenk wird, wenn es nicht der Roboter ist… Bericht folgt.
Manfred Schreiber 01.10.2021