Weil der karge Boden im Süden Italiens nichts mehr hergibt, reist die verwitwete Rosaria Parondi (Katina Paxinou) in der Hoffnung auf ein besseres Leben mit ihren vier Söhnen nach Mailand. Der fünfte und älteste ihrer Sprösslinge weilt schon eine Zeitlang in der Metropole, wo er von der Familie seiner künftigen Frau (Claudia Cardinale) aufgenommen wurde. Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten der Parondis rücken mit dem empathischen Rocco (Alain Delon) und dem narzisstischen Simone (Renato Salvatori) zwei grundverschiedene Brüder ins Zentrum des Geschehens. Beide etablieren sich als mehr oder weniger erfolgreiche Profi-Boxer, und beide lieben die Prostituierte Nadia (Annie Girardot), was letztlich eine schreckliche Tragödie heraufbeschwört, die die ganze Familie zerrüttet.
Regisseur Luchino Visconti, der später mit opulenten Epen wie IL GATTOPARDO und LUDWIG auf sich aufmerksam machte, ist bei ROCCO E I SUOI FRATELLI noch dem italienischen Neorealismus verpflichtet, was sich auch optisch in der grossartigen Schwarzweiss-Fotografie von Giuseppe Rotunno bemerkbar macht. Und nebst der starken Besetzung ist auch Nino Rotas leidenschaftliche und aufwühlende Musik ein Qualitätsmerkmal dieses unvergesslichen Films.
Der Score besteht hauptsächlich aus vier Komponenten: das schicksalsschwere Hauptthema mit seinem integrierten, markanten Zweiton-Motiv, ein lieblicher Walzer zwischen Melancholie und Heiterkeit, das wehmütige «Paese Mio» für die Sehnsucht nach der alten Heimat und ein Jazz-Thema für die betriebsame Grossstadt und wohl auch als Musik der einfachen Leute gedacht.
Am nachhaltigsten bei manchem Hörer hängen bleiben dürfte der reizende Walzer, dem Rota gerne durch Holzbläser, Gitarre, Handorgel und Mundharmonika einen volkstümlichen Charakter verleiht. Ähnliches lässt sich zuweilen auch über die instrumentalen Bearbeitungen von «Paese Mio» (Elio Mauro ist für die Vokal-Versionen besorgt) sagen. Jazz-seitig sind Elektro-Orgel und -Gitarre sowie Standbass die Hauptakteure.
Diese Premiere des kompletten Scores verdoppelt nahezu die Spielzeit der seinerzeitigen LP, deren Programm von Quartet auf der zweiten CD zusammen mit ein paar Alternates selbstverständlich mitgeliefert wird. Am auffälligsten ist hierbei, dass sich der LP-Schnitt eher auf das Orchestrale als auf den Jazz und sonstige von Rotas Ausflügen ins Unterhaltungsfach konzentriert. Das mag einigen Hörern entgegenkommen, aber auch wenn der Jazz grundsätzlich eher sourcemusik-artig wirkt, spielt er für das bessere Verständnis von Rotas Intentionen doch eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Aber egal, wo die Präferenzen letztlich liegen, da nun beide Fassungen vorliegen, und das erst noch in angemessener Klangqualität, dürfte jedem gedient sein.
ROCCO E I SUOI FRATELLI gehört zu den bedeutenden Filmmusiken Nino Rotas, ist gar einer der Hauptgründe dafür, dass Francis Ford Coppola den Komponisten für THE GODFATHER verpflichtete. Schon für sich alleine ist der Score eine absolute Wucht, mit Kenntnis des Films gewinnt er jedoch noch einiges an zusätzlicher Wirkung.
Andi 1.9.2020
ROCCO E I SUOI FRATELLI
Nino Rota
Quartet Records QR423
CD 1 71:05 Min. / 36 Tracks
CD 2 46:47 Min. / 22 Tracks