Review aus The Film Music Journal No. 31/32, 2004
Kurz vor Weihnachten äußerte sich John Morgan sehr pessimistisch über den Fortgang der Marco Polo-Reihe. Nach 30 Alben dreht das Label den Geldhahn zu. Zwar sind die Verkaufszahlen für viele CDs recht ordentlich, doch verlangen die Ensembles zuviel. Ein bewährter Kompromißgedanke gerät aus der Balance: Die Moskauer Symphoniker sind international ein B-Ensemble. Da London oder Wien unbezahlbar, die meisten anderen Ost-Orchester aber indiskutabel sind, wurde in Moskau ein sehr gutes Preis-Leistungsverhältnis gefunden. Anders als bei der lendenlahmen Steiner-CD zeigt sich das Moskauer Orchester diesmal am oberen Limit des Möglichen. Dabei hatte man gerade hier bangen müssen.
Schon viele Interpreten sind bei dem Versuch gescheitert, Tiomkins Musik in Neuaufnahmen adäquat zum Klingen zu bringen. Die Schwierigkeit ist eine doppelte. Erstens war der gebürtige Russe nie darum verlegen, in den Einspielungen kurzfristige Änderungen anzubringen und sich weit von den Partiturvorgaben zu entfernen, was die Nachwelt naturgemäß vor Probleme stellt; und zweitens hat seine Musik einen ganz eigenen Sound, den man vielleicht als „neureich“ bezeichnen könnte, in Analogie zu jemandem, der aus kleinsten Verhältnissen stammt, dank überraschender Geldquellen einen kometenhaften Aufstieg erlebt, aber in seiner Persönlichkeit doch ein Prolet bleibt. Tiomkin kennt keine Grenzen, was die Größe von Ensembles angeht; er sorgt für einen vibrierenden Klang voller Lebensgier und Selbstbewußtsein.
Flatterzungen, gestopftes Blech, vorwärtspreschende Rhythmen – nichts darf sich der musikalischen Stampede in den Weg stellen. Verständlicherweise haben viele gesittete
Musiker Hemmungen, diesen Zugang zu imitieren und selbst so zu tun, als seien sie John Wayne mit Kontrabaßtuba zu Pferde. William Stromberg hat es jedoch über weite Strecken vermocht, das Moskauer Orchester nebst Chor zu kraftstrotzenden Attacken zu animieren. Es wird nie kopflos musiziert, auch gibt es, verglichen mit der nur noch via DVD zu hörenden Originalaufnahme, ein paar Ausdrucksreserven; dafür bekommt man die farbige und herrlich instrumentierte Partitur nun in breitem Panoramaklang geboten.
Als Tiomkin 1947 den Auftrag zu seiner RED RIVER-Musik erhielt, gab es nicht viel, womit er sich hätte auseinandersetzen können. Die zahllosen B-Westernscores konnten ohnehin kein Vorbild sein, und noch ein Regisseur wie John Ford leistete sich die Dienste mittelprächtiger Komponisten. Selbst wenn man den Vorläufer DUEL IN THE SUN (1946) mit in Betracht zieht, stand RED RIVER Ende der vierziger Jahre ziemlich singulär in der Westernfilmmusik da, und ehe Jerome Moross zehn Jahre später neue Maßstäbe setzte, war Tiomkin der König dieses Genres.
Hört man die 64 Minuten am Stück, so gibt es durchaus Phasen, in denen purer Lärm das Feld beherrscht, daneben auch manchen weniger eindrücklichen Moment, in dem man sich eher auf einer asiatischen Steppe wähnt als in den Weiten der amerikanischen Prärie. Der große Feinsinnige war Tiomkin sicher nie, er wußte, wie man notfalls Partiturseiten füllt, ohne viel mitzuteilen. Und doch bestechen seine Themen, die großen Gesten, die
raumgreifenden Gebärden genauso wie die sentimentalisch aufgeladenen Momente intimer Gesanglichkeit. Das alles addiert sich zum typischen, unverwechselbaren Tiomkin-Klang. In der Moskauer Neuaufnahme tönt er nicht länger nach Jahrhundertmitte, platzt die Tonspur nicht mehr aus den Nähten. So bekommen wir eine RED RIVER -Musik in neuem, zeitgenössischen Gewand auf dem Silbertablett serviert.
Alles weitere verrät das gewohnt auskunftsfreudige Booklet, um dessentwillen sich Marco Polo mit den amerikanischen Rechteinhabern streitet. Auch das kein gutes Zeichen für den Fortbestand der Reihe.
Matthias | 2004
RED RIVER
Dimitri Tiomkin
Marco Polo
64:10 | 37 Tracks