Princesses/Un frère

Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000

Jenes Diktum Bernard Herrmanns, demzufolge jeder Film sein eigenes musikalisches Klangkonzept benötige, hat im Hollywood der Gegenwart kaum Niederschlag oder Nachfolger gefunden. Philippe Sarde scheint ausgerechnet in Frankreich heutzutage fast der Einzige zu sein, der sich dieser Tradition verpflichtet fühlt und seine Instrumentierungen voller Experimentierfreude dem jeweils betreffenden Film maßschneidert.

Die neueste, gerade eben erschienene CD von ihm, PRINCESSES/UN FRÈRE, bringt zwei Scores zu Gehör, die er für zwei Filme der noch ganz jungen belgischen Nachwuchsregisseurin Sylvie Verheyde verfaßte. Da es sich bei beiden um psychologische Dramen mit verwickelt-komplexen Familienbeziehungen handelt, beide übrigens mit der jungen Emma de Caunes in der Hauptrolle, sind schon die einzelnen Tracks auf der CD mehr als ungewöhnlich zu nennen. Da ist von Halbschwestern, Halbbrüdern, großen und falschen Brüdern die Rede, bis der Schlußtrack schließlich zur Auffindung des Vaters der zwei Halbschwestern, den sogenannten ‹Prinzessinnen›, führt («Notre père»).

Sarde geht bei beiden Partituren, von denen je vier bzw. fünf Tracks in abwechselnder Manier präsentiert werden, das Wagnis ein, Jazzinstrumente mit einer Streicherbesetzung zu konfrontieren, wie er es früher schon etwa mit LA PIRATE (1984) gemacht hat. Für UN FRÈRE (1997) holte er sich den Jazz-Kontrabassisten Ron Carter, den er so brillant bei LE CHOIX DES ARMES (1981) eingesetzt hatte, für PRINCESSES, sein allerneuestes Werk, gar das berühmte Modern Jazz Quartet um John Lewis, das ja Ende der 50er Jahre selbst zu mehreren französischen Filmen Soundtracks beisteuerte. Der berühmteste davon dürfte Roger Vadims SAIT-ON JAMAIS von 1957 sein, vielleicht allgemein geläufiger unter dem englischen Titel NO SUN IN VENICE. Am faszinierendsten und vielschichtigsten wirken die beiden langen Suiten («Suite Princesses», «Grand Frère») von je sechs bzw. neun Minuten, in denen die beiden verschiedenen Klangsphären sich aneinander reiben können und dadurch herrliche Klangfarben entstehen, die jedoch nie ganz ins Abstrakte übergehen, sondern anders als beim Minimalismus stets von melodischem Reiz durchzogen sind.

Herbe Lyrik entsteht beispielsweise, wenn der raue Kontrabass eine wehmütige Weise anstimmt, die von anderen Streichinstrumenten weiterentwickelt und dann wieder an das Soloinstrument zurückgegeben wird. Bestechend und absolut unkonventionell, wie man es von kaum einem anderen Komponisten kennt. Verstörend für den Sarde-Kenner mag vielleicht sein, dass er beim Hauptthema von UN FRÈRE auf das choralartige lange Stück «La Passion Selon Eloise» aus dem zwei Jahre zuvor entstandenen LA FILLE DE D’ARTAGNAN zurückgreift. Sicherlich kein Einzelfall bei Sarde, der ja seine Arbeit als ‹Work in CD-Kritiken Progress› begreift und Wiederaufnahmen eigener Themen in einem Interview mal so legitimiert hat: er hätte doch das Recht, in seine eigene Küche zu gehen! Man kann sicherlich darüber streiten, ob solches Recycling bekannter Themen hier gerechtfertigt ist. Fest steht aber: Er verfremdet das vorgegebene Material durch die Jazzebene hier noch mehr, gibt dem Ganzen einen noch melancholischeren und gleichzeitig intimeren Tonfall.

Sicherlich ist das keine leicht konsumierbare CD für den an Mainstream gewohnten Hörer, eher was für den Feinschmecker und für diejenigen Filmmusikfans, die schon mehrere Sarde-Erlebnisse hinter sich haben. Eine Tonschöpfung, die ganz auf das Innere der Personen abhebt und dabei eine verhaltene, aber bittersüße Nostalgie verbreitet. Abgeschlossen wird die CD übrigens durch zwei Tracks aus der bisher unveröffentlicht gebliebenen Sarde-Musik zum Pierre Granier-Deferre-Film L’HOMME AUX YEUX (1985). Diese zwei Cues mit Jazz-Legenden wie Herbie Hancock, Wayne Shorter und Ron Carter wirken nach all dem, was vorangegangen ist, wie ein Befreiungsschlag: der reinen Jazz-Improvisation dürfen endlich Tür und Tor geöffnet werden.

Stefan  |  2000

PRINCESSES/UN FRÈRE

Philippe Sarde

Emarcy

41:58/11 Tracks