Review aus The Film Music Journal No. 19, 1999
Gab es zuletzt nur noch eine HORTENSE-CD mit einem Querschnitt durch das Werk des 1998 gestorbenen französischen Filmkomponisten Paul Misraki, so haben sich nun verschiedene Labels zusammengetan und ihre Bestände der Sony zum Vertrieb angeboten. Vier thematisch sortierte Volumen sind Anfang des Jahres auf den Markt gelangt und präsentieren Soundtracks der fünfziger bis siebziger Jahre, als Misraki zu den vielbeschäftigten Compagnons der französischen Regie-Elite gehörte und in den Sog der legendären Nouvelle Vague gezogen wurde. Dieser Komponist dürfte fast alle Kollegen dadurch in den Schatten stellen, daß er mehr als ein halbes Jahrhundert lang im Geschäft blieb und zwischen 1931 und 1985 (!) Dutzende von Filmmusiken schrieb, zu denen meines Wissens noch nie irgend ein Artikel in den einschlägigen Filmmusikblättern aufgetaucht ist (sollten die französischsprachigen Leser des Journals über Misraki-Infos verfügen, bitte ich um Kontaktaufnahme; M.W.)
Am Anfang des CD-Quartetts, dessen zweite Hälfte später besprochen werden wird, steht Misrakis musikalischer Harem, denn schließlich geht es hier durchgängig um das schöne Geschlecht. «Und Gott erschuf die Frau», wie der Titel nicht nur des Albums lautet, sondern auch des 1956 gedrehten Films, alternativ als «…und immer lockt das Weib» in deutschsprachigen Landen vertrieben. Curd Jürgens, deutscher Macho-Export der Fünfziger, ist eines der Opfer von Brigitte Bardot in ihrer frühen femme fatale-Rolle, inszeniert von Roger Vadim. Insgesamt dürfte VOL. 1 allerdings nur etwas für Fans jenes von Misraki zwar exquisit gehandhabten, aber doch sehr speziellen jugendlich-modischen Gesellschaftsmusikstils französischer Couleur sein, der sich zu jener Zeit etablierte.
Interessanterweise findet sich dort etwa das gleiche Phänomen wie in Hollywood, wo von North, Goldsmith, Bernstein und anderen ein neuer Weg eingeschlagen wurde und die alte Garde um Steiner und Kaper plötzlich nicht mehr gefragt war. In Frankreich hießen die Altmeister beispielsweise George Auric – diverse Neuaufnahmen unter Adriano werden mit Spannung erwartet – und Joseph Kosma, dessen großartige Filmmusik auf Tonträgern fast gar nicht platziert wurde. Anstelle ihrer spätromantischen bzw. neoklassizistischen Vorlieben regierte nun das Bedürfnis nach einerseits leichtlebigen Klängen, die sich am Bedürfnis der jungen Generation orientierten; andererseits liebte man eine spezielle Neo-Romantik, die aber nicht die komplexen Tonsätze der früheren Komponisten fortschrieb, sondern schlichte, sentimentale Melodien bevorzugte. Mit Delerue, Magne und anderen standen junge französische Künstler bereit, welche diesen Spagat mitzumachen verstanden.
Paul Misraki verstand es, sich auf die neue Situation einzustellen. Seine frühen Werke sind mir unbekannt und werden leider nicht in der Anthologie berücksichtigt. Es wäre einmal zu diskutieren, warum die Liebhaber und Sammler der jüngeren US-Komponisten sich nie um deren europäische Pendants gekümmert haben. Nun denn, hier wäre ein Anfang zu machen. Dabei empfiehlt sich VOL. 2 allerdings weitaus eher, weil dort eine größere musikalische Spannweite erzielt wird.
Wer nicht lange suchen will, bekomme augenblicklich das Glanzstück Misrakis vorgesetzt: ALPHAVILLE (1965), ein Höhepunkt auch im Schaffen des radikalen französischen Regisseurs Jean-Luc Godard – übrigens seit kurzem auf DVD erhältlich -. In dieser negativen Utopie beherrscht ein Computer (!) namens Alpha 60 die nach ihm benannte Stadt, aber nur so lange, bis ein Agent ins Spiel kommt und es in Verhören mit dem digitalen Diktator aufnimmt. Godards genialer Schachzug bestand darin, die aus anspruchslosen französischen B-Actionern der fünfziger Jahre populäre Figur des Lemmy Caution in diesen Film zu integrieren und sie auch noch mit ihrem originalen Darsteller Eddie Constantine zu besetzen. Dessen ultracooles Spiel erzwingt die krude Mischung zwischen B-Film-Atmosphäre und anspruchsvollem Kunstfilm. Während die Kamera die trost- und gefühllose Stimmung in Bürofluren der Stadt einfängt, schreibt Misraki eine der traurigsten und verlorensten Melodien, die ich je in einem Film gehört habe. Die Filmmusik zu ALPHAVILLE ähnelt im Gestus nicht nur entfernt Bernard Herrmanns tiefromantischen Blicken auf die von ihm betreuten Dramen: Misraki erreicht hier auch das gleiche Niveau, und nicht ohne Grund kommt einem der fast gleichzeitig entstandene utopische Beitrag von Godards Kollegen François Truffaut in den Sinn: wer FAHRENHEIT 451 liebt, muß sich unbedingt auch diesen Film und seine Musik besorgen.
Matthias | 1999
MUSIQUES ORIGINALES DE FILMS VOL. 1
ET DIEU CRÉA LA FEMME
Paul Misraki
Larghetto/Sony
68:24 | 32 Tracks
MUSIQUES ORIGINALES DE FILMS VOL. 2
NOUVELLE VAGUE
Paul Misraki
Larghetto/Sony
72:33 | 33 Tracks