Padre Pio

Review aus The Film Music Journal No. 28, 2002

Für den, der sich einigermaßen im umfangreichen Morricone-Oeuvre auskennt, ist es im Grunde schon seit langem eine Binsenweisheit, daß die besten Arbeiten des Meisters nicht unbedingt immer mit dem Bekanntheitsgrad der vertonten Filme in einen Äquivalenz-Zusammenhang zu bringen sind. Oft sind es gerade die Scores zu unbekannten, kuriosen oder sogar völlig mißratenen Filmwerken, die sich beim Hören dann als die echten glanzvollen Perlen erweisen. Zudem hat Morricone schon desöfteren in seiner Karriere eine besondere Affinität zu religiös behafteten Sujets an den Tag gelegt, die ihn – wie im übrigen die meisten italienischen Komponisten von der Garnitur eines Piero Piccioni, Riz Ortolani oder Nicola Piovani – zu besonders gelungenen Soundtracks wie etwa EL GRECO (1964), LA MONACA DI MONZA (1968), PROMESSI SPOSI (1989) oder dem allseits vertrauten THE MISSION (1986) inspiriert haben.

PADRE PIO stellt nun ein weiteres Glied in dieser Kette von melodisch hochkarätigen und anspruchsvollen Filmmusiken dar, und die Behauptung, daß es sich hierbei um Morricones herausragendste Leistung der letzten Jahre handelt, dürfte wohl keineswegs übertrieben sein. Umso überraschender ist das jedoch, wenn man bedenkt, daß hier wohlgemerkt nur ein TV-Zweiteiler über das Leben des in Italien zum Teil als Heiligenfigur verehrten Padre Pio (1887- 1968) zu betreuen war. Wie auf dem CD-Cover zu erkennen ist, gibt der bisher eher als Polizeikommissar allein gegen die Mafia in Erscheinung getretene Michele Placido diesen PADRE PIO, dem nachgesagt wurde, er trage die Wundmale Christi an seinem Leib, und der sich im Zweiten Weltkrieg in aufopfernder Art und Weise für den Bau eines modernen Krankenhauses in seinem süditalienischen Heimatdorf einsetzte. Ob eine solche TV-Produktion nun überhaupt als künstlerisch hochwertig erachtet werden kann oder nicht viel eher als steif und steril herunter gekurbeltes Laientheater im Stil eines Oberammergauer Passionsspiels, soll und kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

Morricone hingegen scheint für seinen opulenten und keinesfalls mit üppigen Orchesterklängen geizenden Score absolute carte blanche bekommen zu haben – offensichtlich mehr noch als bei renommierteren Filmen, für die er in den letzten Jahren die Musik abgeliefert hat. Da kann man sich nur noch die Augen reiben, was im Gegensatz hierzu für unsere schläfrigen deutschen TV-Anstalten an musikalischen Nichtigkeiten verfertigt wird, weil es ja bekanntlich immer am entsprechenden Budget für den Soundtrack fehlt. Nicht so bei Morricone: Da geht es schon von Anbeginn mit Track 1 «Padre Pio Tra Cielo e Terra» in die Vollen. In prachtvollschwelgerischem Gestus wird das in späteren Stücken in unterschiedlicher Orchesterbesetzung wiederaufgenommene elegische Hauptthema zunächst von den Streichern ausgebreitet, bis Bläser und Pauken mit zeremoniellen Barock-Fanfaren in ein sakral angehauchtes, erhabenes und hauptsächlich von Trompete und Chor intoniertes zweites Thema überleiten, welches wiederum in die getragene Anfangsmelodie einmündet. Ein grandioses, mitreißendes Opening, das im vergangenen Soundtrackjahr wahrhaftig seinesgleichen sucht.

Doch damit nicht genug, prasselt in den folgenden Tracks sozusagen ein Highlight nach dem anderen auf den Hörer nieder. Ein weiteres herrliches Thema folgt in Track 2 «La Sofferenza», wo durch die für Morricone so typische Solo-Bratsche nebst Streicherhintergrund ein schmerzlicher Grundton angeschlagen wird, der zutiefst berührt. Das ist wunderbar inspirierte, breit dahinfließende Melodik, die selbst für Morricone-Verhältnisse nicht gerade als alltäglich zu bezeichnen ist.

Der Reigen solch satter sinfonischer Wohlklänge setzt sich fort mit den Stücken «La Croce della Gloria» (getragen von Oboe und Flöte), «Nel Silenzio» (Englischhorn und danach volles Orchester mit Chor kommen zum Zug) und «Tra Cielo e Terra» (durch den Einsatz der Orgel und der hohen Streicher ergibt sich in diesem Cue eine besondere Nähe zu IL DESERTO DIE TARTARI, Morricones Meisterwerk von 1976), in denen das im ersten Track vorgestellte motivische Material äußerst geschickt variiert und ausgekostet wird. Zusätzliche ausdrucksstarke und anmutige Motive voller Schwermut und Zärtlichkeit kommen in «La Verita› Nelle Stimmate» und «La Casa della Sofferenza» zu Gehör, wogegen 11 «Dolore e 1’Ira» eine interessante, rhythmisch leicht veränderte Version des bekannten Dies Irae-Motivs bringt, zunächst nur vom Cembalo gespielt, bis sich in geradezu kontrapunktischer Form Streicher und Baßflöte um dieses Instrument herum anordnen und kanonartig dagegen anspielen.

Meditativer Höhepunkt des Scores und mit 10 Minuten der längste Track auf der CD ist «Sia Fatta la Sua Volonta’», wo aus einem riesigen Bass-Orgelpunkt von Harfe, Pauke und Streichern sich langsam eine expressive, würdevolle Melodie herausschält, die zu einem warmherzigen Finale führt. Allein die letzten beiden Tracks fallen gegenüber den zuvor gehörten romantischen 45 Minuten etwas aus dem Rahmen und sind wohl bewußt als Anhängsel zu verstehen: «7 Raccordi» enthält in geballter Ladung gleich sieben jeweils kurze atmosphärische und spannungsgeladene Teile mit den bei Morricone bekannten Streichertremoli und -dissonanzen, «Solo Voci» dagegen beschließt die CD mit mehrstimmigen, stark der Gregorianik verpflichteten a cappella-Chören.

Insgesamt liegt mit PADRE PIO eine faszinierende und hinreißende melodische Filmmusik vor, bei der man kaum glauben sollte, daß sie von einem mittlerweile 73-jährigen Veteranen verfertigt wurde. Es dürfte fraglich sein, ob in diesem Jahr ein bewegenderer und sinnlicherer Score das Licht der Welt erblickt hat. In den oberen Soundtrack-Rängen sollte für den heiligen Pater auf alle Fälle noch ein Plätzchen frei sein.

Stefan  |  2002

PADRE PIO
Ennio Morricone
Lux Vide
60:59 | 12 Tracks