Marcinelle

Review aus The Film Music Journal No. 33/34, 2005

Während in Italien bei Kinofilmen kaum noch Geld für eine orchestrale Filmmusik vorhanden ist und man munter den modischen Trends der Amerikaner nachläuft, hat sich paradoxerweise bei TV-Produktionen eine regelrechte Nische aufgetan, die sich nicht wenige Komponisten in den letzten Jahren eifrig zunutze gemacht haben. Budgetprobleme scheint es dabei kaum zu geben, und immer wieder überraschen daher die beiden italienischen Labels Image Music und RAI Trade mit qualitativ herausragenden Soundtracks, die «nur» fürs Fernsehen komponiert worden sind.

Ein besonders hell aufleuchtendes Juwel dieses Jahres stellt nun Bacalovs neue Arbeit MARCINELLE dar, die mit dem engagierten Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi eingespielt worden ist. Die auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte des mit den hierzulande unbekannten Schauspielern Claudio Amendola und Maria Grazia Cucinotta besetzten Fernsehfilms spielt in dem belgischen Ort Marcinelle, wo in den 50er Jahren italienische Bergbauarbeiter bei einem Grubenunglück ihr Leben verloren.

Bacalovs elegisch sich ausbreitender Score bietet exakt das, was einem die meisten aktuellen Filmmusiken des Jahres 2004 mit ihren anödenden Klimper- und Klangteppichen vorzuenthalten versuchen: Traumhaft schöne und ausdrucksstarke Melodik, die durchflutet wird von einem besonders stark ausgeprägten Gespür fürs italienische

Belcanto. Voller Gefühl und Intensität bringen die Streicher, immer wieder von markant dazwischenfahrenden Hörnern unterbrochen, das sehnsuchtsvolle Hauptthema im Titeltrack «Marcinelle» zu Gehör. Ein wunderbarer melodischer Ohrwurm, der in Bann schlägt und bei dem vor allem fasziniert, wie herrlich Bacalov den Streicherapparat mit schmerzvoller Gebärde hochzieht und die für ihn so typischen tragischen Ornamente in die Melodie einbaut. Hier wird nicht bloß eine sterile, kalkulierte Gefühlsduselei zelebriert, sondern es wird tiefe musikalische Empfindung und Anteilnahme hör- und fühlbar gemacht. In verschiedenen Variationen, die meist von solistischen Einlagen etwa der Gitarre, des Akkordeons, der Klarinette oder des Cellos geprägt werden, taucht dieses Thema mehrfach im Verlauf des Scores auf und erklingt zum Schluß in «Caduti» als Requiem für die Gefallenen in einer exquisit auskomponierten Fassung für Violoncello und Chor.

Ein weiteres herrlich dahinschwebendes Liebesthema macht in Track 2 «Amore colpevoli» seine Aufwartung, ebenfalls zunächst von den Streichern dargeboten, während sich in einer zweiten Version Gitarre und einzelne Holzbläser des Themas in reizvoller Weise annehmen. Zusätzliches thematisches Material kommt im wunderbar verklärten «Tristezze del Sud» zur Geltung, das nur von einem innigen Dialog zwischen Akkordeon und Harmonika erfüllt ist, während in einigen wenigen Stücken wie «Emergenza fuoco» mit aggressivem Blech und Paukendonner das tragische Unglück musikalisch kraftvoll beleuchtet wird.

Mit MARCINELLE ist Bacalov ein sinfonischer Volltreffer gelungen, der berührt und sich tief in die Seele eingräbt. Wer ein offenes Ohr für südländisches Timbre hat, dürfte dieses Jahr kaum mehr so reichlich belohnt werden wie mit dieser CD.

Stefan  |  2005

MARCINELLE
Luis Bacalov
RAI Trade FRT 404
42:22 | 20 Tracks