Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000
Den meisten Sammlern, deren Blickwinkel sich fast ausschließlich nach Amerika richtetet, mag es wohl entgangen sein, daß das zu Ende gehende Jahr 2000 geradezu von der Wiederauferstehung des Jean-Claude Petit geprägt war. In den letzten Jahren war es merkwürdig still um den Komponisten geworden, immerhin liegt sein letzter sinfonischer Geniestreich BEAUMARCHAIS inzwischen auch schon wieder vier Jahre zurück. Nach der eher verpoppten und mißratenen Schmonzette CHASSEURS D’ÉCUME von 1999 erschienen in den letzten Monaten gleich zwei neue CDs von Petit – die dritte, LUMUMBA, wurde soeben bei CAM in Italien veröffentlicht -, die beide wieder auf gewohnt hohem Niveau angesiedelt sind.
LES MISÉRABLES, eine neuerliche Adaption des schon übermäßig oft verfilmten Victor Hugo-Romans, für die mal wieder Frankreichs Aushängeschild Gérard Depardieu den Kopf herhalten muß, bringt Petit auf sein Spezialgebiet, nämlich historische Tableaux, zurück. Ohne den Anspruch eines Michel Magne zu verfolgen, der seine chorsinfonisch angelegte LES MISÉRABLES sozusagen um die ‹letzten Dinge› kreisen ließ, geht Petit hier geradliniger und forscher zu Werk, was dem Score aber auch eine große atmosphärische Dichte und Geschlossenheit verleiht.
Gleich im ersten Track «Les Misérables» wird das vorwärtsstürmende, zugleich düstere wie dynamische Hauptthema vorgestellt, das so recht zum Mitgaloppieren einlädt. Es weitet sich aus zu einer nostalgisch-romantischen Elegie von durchaus klassischer Prägung. Auffallend ist die durchgängige Transparenz des Klangbilds und der Verzicht auf plakatives Orchestergetümmel, wie es die Amerikaner bevorzugen. Mit einer geradezu luftigen, abwechslungsreichen Instrumentierung, bei der oft Flötentöne, Harfen- und Triangeltupfer sowie Trompetensignale für frisches Kolorit sorgen, bestreitet Petit seinen Score und hält so das Interesse des Hörers über die gesamte Laufzeit der CD wach. Gitarrensolis für die weiblichen Protagonistinnen der Story, Cosette und Fantine, bringen weitere romantische Einfälle zu Gehör, die aufhorchen lassen. Eine handwerklich solide, klassisch strukturierte Arbeit, die man mehr als einmals in seinen Player einlegt.
Fast noch mehr zu empfehlen, weil noch überraschender, ja lyrischer und eingängiger, ist der Score, den Petit für die leichtfüßige Komödie LE PROF mit Jean-Hugues Anglade in der Titelrolle abgeliefert hat. Zwei Lehrer an einer Hochschule verlieben sich in die gleiche Frau, eine schöne Psychologie-Dozentin, die von der attraktiven Hélene de Fougerolles verkörpert wird. Wer bei diesem Thema nun moderne Pop-Rhythmen oder zumindest unterhaltsame Easy Listening-Kost im Stile eines Mancini erwartet hätte, wird von Petit eines Besseren belehrt. Ein bezauberndes, ja schwelgerisches Ohrwurmthema wird vom Cello angestimmt und von den Streichern aufgebaut, wozu sich in späteren Stücken noch ein ebenso schönes elegantes Liebesthema hinzugesellt. Auf der Grundlage dieser beiden Themen bestreitet Petit eine wunderbar sanfte Partitur, die für jeden Romantiker und Liebhaber herzerwärmender Orchesterklänge das reinste Hörvergnügen darstellt.
Als wär’s ein Stück aus CYRANO DE BERGERAC oder aus dem HUSSARD SUR LE TOIT und als hätte Petit nur das barocke Beiwerk von dort abgestreift, dafür aber seine reizvollen Orchesterfarben und prägnanten Klangkombinationen nahtlos übernommen. Mal singt sich die Gitarre solistisch aus, dann variieren Cello oder Klarinette nebst Streicherhintergrund das Thema und spinnen es weiter, bis wieder das volle Orchester aufrauschend zum Zuge kommt. Im prachtvoll dahinfließenden «Epilogue» führt er seine beiden Hauptthemen noch einmal virtuos zusammen, bevor die CD mit einer anmutigen Klavierimprovisation über das thematische Material («Rêverie autour de deux thémes») ganz bescheiden zu Ende geht. Petit scheint merkwürdigerweise von diesem Sujet so inspiriert worden zu sein, daß er mit LE PROF seine beste Arbeit seit langem abgeliefert hat.
Natürlich fragt man sich als Hörer des öfteren, wie und ob ein solcher Soundtrack zu einer derartigen Komödie passen könnte. Allein auf sich gestellt jedoch, ist die Musik bzw. die CD ein ganz außerordentliches Erlebnis, das ich jedem sonst nur an amerikanischen Soundtrack-Romanzen Geschulten dringendst ans Herz legen möchte.
Stefan | 2000
LES MISÉRABLES
Jean-Claude Petit
Naive
43:38 | 16 Tracks
LE PROF
Jean-Claude Petit
Sony
41:30 | 18 Tracks