Review aus The Film Music Journal No. 26/27, 2001
Insgesamt sechs Filmmusiken von unterschiedlicher Länge aus der enorm produktiven Partnerschaft zwischen Komponist Philippe Sarde und Regisseur Pierre Granier-Deferre – immerhin 17 Filme umfaßt deren Teamwork – dokumentiert dieser jetzt in Frankreich erschienene Sampler. Granier-Deferre, der seine letzte Filmarbeit 1994 drehte, war kein hochangesehener Auteur, viel eher ein sorgfältiger Handwerker, dem es zumeist darauf ankam, eine spannende Geschichte zwar konventionell, aber atmosphärisch dicht und mit ausdrucksstarken Schauspielern umzusetzen. Die meisten der auf dieser CD ausgewählten Filme – LE TRAIN (1973), LE CHAT (1970), LA VEUVE COUDERC (1972), LE FILS (1973), LA RACE DES SEIGNEURS (1974) und L’ÉTOILE DU NORD (1982) – sind eher intime Dramen und Charakterstudien -vier davon nach Romanen von Georges Simenon -, zumeist besetzt mit den großen Stars des französischen Kinos der 70er Jahre wie Romy Schneider, Jean-Louis Trintignant, Jean Gabin, Alain Delon oder Yves Montand, deren starke Präsenz oft schon Garant genug für ein eindrucksvolles Kinoerlebnis war.
Der Löwenanteil dieser Scheibe kommt eindeutig dem sensibel in Szene gesetzten Liebesdrama LE TRAIN (nach der Vorlage von Simenon) zu, der anrührenden Geschichte um die Jüdin Anna (Romy Schneider) und den verheirateten Radiomechaniker Julien (Jean-Louis Trintignant), die sich auf der Flucht vor den deutschen Truppen im Kriegsjahr 1940 auf eine unmögliche, drei Jahre später tragisch endende Liebesaffäre einlassen. In identischer Länge (19:43) wie auf der 1973 erschienenen LP kommen von LE TRAIN neun Tracks zu Gehör, die von Sarde bereits nach der Fertigstellung des Drehbuchs und vor dem Beginn der eigentlichen Dreharbeiten geschrieben wurden. Granier-Deferre ging dann sogar soweit, bestimmte Szenen des Films der bereits als Playback vorliegenden Musik anzupassen.
Für LE TRAIN komponierte Sarde einen seiner faszinierendsten und effektivsten Scores, der zudem mit einer recht üppigen Orchesterbesetzung – es spielt das Santa Cecilia Orchester Rom unter der Leitung des altbewährten Carlo Savina – aufwarten kann. Das mitreißende Opening («L’Attaque»), das den Angriff der Nazis auf den mit den flüchtenden Franzosen besetzten Zug beschreibt, ist bereits von spektakulärer Wucht, wobei hohe Streicher-Pizzicati im Herrmann-Stil sowie kraftvolle Bläser- und Schlagwerkakkorde für pulsierende und hektische Dramatik sorgen. Ebenso imposant Track 2 («L’Exode»), wo durch in sich kreisende Streicherläufe und aufpeitschende Staccati des Blechs ein unerbittlich vorantreibender und fesselnder Rhythmus beibehalten wird, der von düsterer Tragik kündet. Durchweg leidenschaftliche, dabei stets melodisch durchtränkt bleibende emotionale Musik, an der mit ziemlicher Sicherheit auch ein Bernard Herrmann seine Freude gehabt hätte.
Erst ab dem dritten Stück («Anna»), in dem sich das sehnsuchtsvoll-romantische Liebesthema, das ein wenig an eine Arie aus Puccinis Oper «La Bohéme» erinnert, durch in immer höhere Streicherregister wandernde Sequenzierungen ausschwingen darf, beruhigt sich der musikalische Duktus, wird lyrischer und schwärmerischer. Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder spannungsreiche, die Fahrt des Zuges versinnbildlichende kontinuierliche Streicherbewegungen («Le Train» oder «La Guerre») oder schwebend dahinfließende Harmonien («La Nuit»), die in ihrem Verlauf das intensive Liebesthema in verschiedenen Variationen aufgreifen. LE TRAIN bietet 20 Minuten aufwühlend-sinnliche Filmmusik, die auf Grund ihres melodischen Potentials und ihrer großorchestralen Aufmachung gerade auch jenen Soundtrackfans ans Herz zu legen ist, die bei spröder und kammermusikalischer angelegten Sarde-Scores von vornherein gleich die Flinte ins Korn werten.
Während LE TRAIN komplett auf der CD vertreten ist, werden die anderen sechs Scores nur in Auszügen präsentiert, die im Falle von LE CHAT, LA VEUVE COUDERC, und LA RACE DES SEIGNEURS in etwa dem musikalischen Material entsprechen, das auch auf den in den 70ern zum jeweiligen Film erschienenen EPs oben war.
LE CHAT, das berühmte kammerspielartige Ehedrama mit Jean Gabin und Simone Signoret, bezieht seinen Reiz aus einem schlichten und bedächtigen Klavierthema, das ganz offensichtlich in der Tradition eines Erik Satie steht, während LA VEUVE COUDERC, wieder mit der Signoret sowie Alain Delon in den Hauptrollen, in der 5-minütigen Suite ein gefühlvoll-romantisches, ganz typisches Sarde-Thema zur schwelgerischen Entfaltung bringt, das dem drei Jahre zuvor entstandenen «La Chanson Hélène» aus LES CHOSES DE LA VIE (1969) äußerst nahesteht. Ein weiterer wunderbar nostalgischer Leckerbissen mit Sologitarre nebst Streichern, später von Sarde für den Thriller K (1997) wiederverwendet, entstammt dem Yves Montand-Krimi LE FILS und ist in zwei Versionen auf der CD präsent. Hier ist es besonders ärgerlich, daß nicht alle der 11 Tracks der seltenen, 1973 erschienenen LP, die eh nur – wie viele frühe Sarde-Platten – eine Länge von 20 Minuten hat, übernommen wurden.
Eine merkwürdige Entscheidung von Produzent Stephane Lerouge, zumal die LP mehrere schöne Themen enthält, die sich für diese CD auf alle Fälle angeboten hätten. Für den Sinfoniker eher von geringerer musikalischer Bedeutung sind die drei Ausschnitte aus LA RACE DES SEIGNEURS im Swing- und Big Band-Stil der 40er Jahre sowie einem Gutteil Stephane Grappelli-Jazz. Sie zeigen aber auch die Vielseitigkeit eines Komponisten, der es versteht, Regisseure mit den von ihnen favorisierten musikalischen Stilen – und das ist bei Granier-Deferre nun mal die französische Unterhaltungsmusik der 30er und 40er Jahre – zufriedenzustellen.
Eine lockere Akkordeon-Musette aus L’ÉTOILE DU NORD, mal verhalten und mal lebhafter arrangiert, beschließt das Programm dieser 50minütigen Scheibe, die gut und gern mit Exzerpten aus weiteren Sarde/Granier-Deferre-Arbeiten hätte angereichert werden können. Doch auch so liegt hier eine tolle Repertoirebereicherung auf CD vor, die man nur hellauf begrüßen kann.
Stefan | 2001
LE TRAIN – BANDES ORIGINALES DES FILMS DE PIERRE GRANIER-DEFERRE
Philippe Sarde
Universal France
51:09 | 20 Tracks