Review aus The Film Music Journal No. 26/27, 2001
Wenn es darum ginge, fünf oder sechs Lieblingsfilme für die einsame Insel auszuwählen, wäre für mich ganz klar LE MÉPRIS (1963) von Jean-Luc Godard mit dabei im Reisegepäck. Selbst heute, nachdem ich den Film in den letzten 20 Jahren sicherlich mehr als 10-mal gesehen habe, hat dieses magische Meisterwerk nichts von seiner Frische und Sogkraft verloren.
Godard betreibt in diesem Film im Grunde die Auflösung des narrativen Kinos mit dessen eigenen Mitteln, was ihm nie wieder in solch vollendeter Harmonie und Makellosigkeit wie hier gelungen ist. Es gibt zwar eine Geschichte über den Zerfall einer Ehe während der Dreharbeiten zu einem Odysseus-Film, diese ist aber nur Vorwand, um ein weltgespanntes Netz verschiedener Ebenen, Brechungen und Assoziationen auszubreiten. Das Dargestellte bleibt für den Zuschauer stets als Dargestelltes erkennbar so wie auch immer gegenwärtig bleibt, wie die «Filmstars» (Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Jack Palance, Fritz Lang) ihre Rollen «spielen». Durch diesen Gestus des Zeigens im brechtschen Sinne entsteht für den bewußt mithörenden und mitsehenden Betrachter ein immenses inneres Spannungsverhältnis zwischen der Darstellung und deren Analyse, das es jedoch erlaubt, von der reinen Handlung zu abstrahieren und Bilder, Kamerabewegungen, Sprache und Musik in ihrer unverfälschten reinen Schönheit zu genießen.
Wie Bilder durch Sprache (es wird teilweise Französisch, Englisch, Italienisch und sogar Deutsch geredet, außerdem ständig hin- und herübersetzt, was eine Synchronisation des Films nahezu unmöglich macht) und durch Musik rhythmisiert und poetisiert werden, das ist in diesem Film auf einzigartige Weise zu erleben. Vom Glanz des Kinos, der sich natürlich auch in der Hommage an den verehrten Regisseur Fritz Lang festmacht, spricht LE MÉPRIS in so klarer und betörender Form wie kaum ein zweiter Film. Die lange Vorrede gilt freilich der jetzt vorliegenden kompletten Musik von Georges Delerue für Godards Film, die gegenüber der alten Fassung mit vier Stücken auf einer vergriffenen Hortensia-CD von 1992 um zwei Tracks auf insgesamt sechs erweitert wurde und nun zusätzliche eine Länge von knapp 14 Minuten hat.
Indem Godard die von Delerue nach Fertigstellung des Rohschnitts komponierten Tracks an mehreren Stellen des Films mal in kürzeren, mal in längeren Fassungen einfügte und so beinahe 50 Minuten Musik erklingen läßt, verschafft er dem Film eine wahrhaft vierte Dimension. Im Gegensatz etwa zu Alex Norths Kubrick-Desaster bei 2001 (1968) war Delerue bei der Premiere von LE MÉPRIS selbst überrascht, wieviel Godard von seinem Score verwendet hatte, obwohl beide anfangs doch übereingekommen waren, nur eine Viertelstunde Musik im Film zu verwenden. Godard muß selbst gespürt haben, in welchem Maße Delerues getragen-elegische Streicherthemen, allen voran das Brigitte Bardot zugeeignete herrliche «Theme de Camille», dazu angetan waren, seinem vielschichtigen Werk eine weitere wirklich mythische Ebene hinzuzufügen.
Wie ein Todesengel schwebt Delerues grandiose und magistrale Musik über den Personen und über dem Geschehen. Sie mischt sich nicht ein, untermalt und paraphrasiert nicht Details der Handlung, sondern vermittelt dem Zuschauer von Anfang an voller Erhabenheit und Majestät, daß die Tragödie ihren unvermeidlichen Lauf nehmen wird. Selten wurde für das Kino so ausnehmend schöne, intensive Todeslyrik komponiert, wie es Delerue mit der Musik zu LE MÉPRIS gelungen ist. Das Gefühl des Unwiederbringlichen und Unabänderlichen vermittelt er dabei nicht nur durch das schmerzliche Hauptthema, sondern auch durch den kontinuierlich in sich kreisenden grundierenden Streicherrhythmus, der keine Auflösung zuläßt. Interessant ist übrigens, daß die auf der CD ausgewiesene «Ouverture» erst in der zweiten Hälfte des Films erscheint, die auf Capri spielt – ein weiteres Indiz dafür, auf welch individuelle und originelle Weise sich Godard Delerues Score angeeignet hat.
Leider fallen bei den bisher schon bekannten vier Tracks durch die stärkere Dynamik und das präsentere Klangbild einige klangliche Unsauberkeiten und leichte Gleichlaufschwankungen weitaus deutlicher auf als bei der Hortensia-CD, wo dies fast unbemerkt blieb. Ein wenig enttäuschend fand ich, welche Stücke aus anderen Delerue-Filmen der 60er Jahre das Universal-Label mit der Equipe um Stephane Lerouge auf dieser CD platziert hat. Zuerst wurde vor der Veröffentlichung ja kräftig verkündet, es würden hauptsächlich nur bisher unveröffentlichte Tracks verwendet werden, doch Pustekuchen: Aus dem schwungvollen Mantel und Degen-Kabinettstück CARTOUCHE (1961) kommen fünf Tracks zu Gehör, die natürlich alle auch auf der allseits bekannten kompletten Prometheus-CD zu haben sind, genauso wie auch von CENTS-MILLE DOLLARS DU SOLEIL (1964) – mit zwei Tracks vertreten -, bei der eigentlich nur das Hauptthema mit seinen typischen Delerue-Bläserfanfaren überzeugt, schon längst eine Prometheus-Scheibe erhältlich ist.
Ähnlich verhält es sich mit Delerues Harmonika-Klängen für Jean-Pierre Melvilles Gangsterballade L’AINÉ DES FERCHAUX (1962) und mit der äußerst düster sich hinschleppenden Streichertristesse zum Alain Delon-Politkrimi L’INSOUMIS (1964). All das gab es zusammen mit LE MÉPRIS schon einmal auf jener zuvor erwähnten Hortensia-CD. Als Neuheiten bleiben schlußendlich dann übrig: Ein neuer Track («Adultère») aus dem TruffautFilm LA PEAU DOUCE (1963), der leicht verspielte Spannungsmusik von der schnell montierten Autofahrt zu Beginn des Films zu Gehör bringt; ein Track mit nichtssagender Spannungsmusik von der alten EP zu COMPTE À REBOUTS (1970), der die restlichen drei einschmeichlerisch-schönen Melodien und schon oft auf Samplern veröffentlichten Stücke dieser Musik etwas unnötig umrahmt; zu guter Letzt dann tatsächlich sogar drei neue Cues aus HEREUX QUI COMME ULYSSE (1969), mit den beiden spritizgen «Dance Provençale» und «Ulysse» und einer Streicher-Kurzfassung des bekannten herrlichen Lamento, die alle durch Klangschönheit im typischen Delerue-Stil bezaubern.
Wenn man von der unverzichtbaren LE MÉPRIS Musik absieht, ist diese CD folglich eher ein sehr guter Einstieg für Filmmusikhörer, die noch nicht sehr viel von Delerue kennen, als für jene, die eh schon die meisten Delerue-CDs gehortet haben. Zum Abschluß noch ein kleiner Tipp für die Hans Zimmer-Gemeinde und alle diejenigen, die sich sein neuestes Opus PEARL HARBOR zugelegt haben. Da tauchen nämlich genau jene barocken Streicherrhythmen aus LE MÉPRIS versimplifiziert und doch recht unverschämt im Hauptthema wieder auf. Selbst Zimmer scheint demnach insgeheim ein LE MÉPRIS-Liebhaber zu sein. Vielleicht sollten sich seine Fans mal das Original zu Gemüte führen – es ist zumindest jetzt vorübergehend als Frankreich-Import erhältlich.
(für LE MÉPRIS) Stefan | 2001
LE MÉPRIS
Georges Delerue
Universal
70:22 | 18 Tracks