Mit LAST AND FIRST MEN (2020) setzt das Label Deutsche Grammophon die Würdigung des Schaffens von Jóhann Jóhannsson mit einem weiteren Release fort – neben den beiden RETROSPECTIVE-CD-Boxen sind über die letzten Jahre zahlreiche weitere Jóhannsson-Titel bei diesem Label erschienen. Was LAST AND FIRST MEN besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass hier nicht einfach eine weitere Jóhannsson-Filmmusik präsentiert wird, sondern dass hier Jóhannssons Musik zu seinem eigenen Langzeitspielfilm-Regiedebüt zu hören ist. Das schön aufgemachte CD-Set enthält neben dem Soundtrack auch den Film (70’) auf einer Blu-ray Disc und ein informatives Booklet. Damit kann man sich für viele Stunden beschäftigen, wenn man sich darauf einzulassen gewillt ist. Denn, hier findet sich keine leichte Kost.
Wer Jóhann Jóhannssons Arbeiten bisschen kennt, der dürfte weniger überrascht sein, dass sich dieser für sein Filmprojekt keinen spritzigen Komödienstoff vorgenommen hat, sondern einen poetischen Kunstfilm schaffen wollte, der sich universalen, komplexen Themen annimmt. Wie dem Booklet entnommen werden kann, war Jóhannsson seit 2010 auf der Suche nach einem Stoff, der ihm für seinen eigenen Film geeignet schien. Fündig wurde er in einem Foto-Bildband des holländischen Fotografen Jan Kempenaers. Für dieses Buch mit dem Titel «Spomenik» legte Kempenaers den Fokus auf Close-up- und Weitwinkel-Aufnahmen der titelgebenden Kriegsdenkmäler, die in der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren errichtet wurden – unter der Herrschaft des damaligen diktatorischen Staatschefs Jugoslawiens, Josip Broz Tito. Es sind dies tausende Spomeniks! Zusammen mit dem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen filmte Jóhannsson während eines Monats unzählige solche Kriegsdenkmäler, wobei er diese ganz bewusst aus Zeit und Raum entrückt darstellen wollte – sprich viele Kamerawinkel sind vom Boden gegen den Himmel gerichtet, um im Hintergrund wenn möglich nur Natur zu haben und keinen zivilisatorischen Kontext. Damit wirken die Spomeniks in schwarz-weiss aufgenommen tatsächlich wie Boten aus einer anderen Zeit – Vergangenheit oder Zukunft; aber kaum aus dem Hier und Jetzt. Diese Aufnahmen wollte er zu einer Erzählung zusammenfügen und hier wurde er in der Romanvorlage LAST AND FIRST MEN vom englischen Science-Fiction-Autor Olaf Stapledon fündig. Das Buch erschien 1930 und erzählt die Geschichte der Menschheit über einen Zeitraum von 2 Milliarden Jahren. Das Buch wurde zu einer visionären Sensation und zählt noch heute zu den prägendsten Titeln im Science-Fiction-Genre. Dabei wollte Jóhannsson nicht die Handlung des Buchs filmisch umsetzen, sondern Auszüge aus dieser futuristischen Erzählung im Off gesprochen haben – und hierfür konnte er die Schauspielerin Tilda Swinton gewinnen. Sie spricht in kühler, maschinell wirkender Stimme als Angehörige der Menschheit der 18. Entwicklungsstufe (wir sind die 1. Entwicklungsstufe und verglichen mit der 18. Entwicklungsstufe noch entsprechend rückständig – ohne Terraforming, genetic engineering etc.). Und als letztes Element zu dieser Bildsprache und zu Swintons gesprochenen Worten – «Listen patiently… We, who are the Last Men, earnestly desire to communicate with you. …» – gesellt sich nun also auch noch eine Filmmusik von Jóhann Jóhannsson. Dieses hier präsentierte, finale Werk konnte in dieser Form von Jóhannsson nicht mehr fertig gestellt werden – er verstarb vor Beendigung. Deshalb haben langjährige Weggefährten von ihm übernommen, darunter auch Komponist Yair Elazar Glotman, der hier als Co-Komponist genannt wird.
Die Premiere von LAST AND FIRST MEN wurde bereits im Juli 2017 in der Bridgewater Hall gefeiert (im Rahmen des Manchester International Festivals). Dabei war Jóhann Jóhannsson selber noch anwesend und hat zusammen mit dem BBC Philharmonic Orchestra und den Sängerinnen Else Torp und Kate Macoboy Live-Musik zum Screening aufgeführt. Doch für ihn war die Arbeit damit nicht abgeschlossen. Er wollte nach dieser Aufführung die Musik feiner, kleiner und intimer ausgestalten, damit sie mit dem Monolog von Tilda Swinton nicht in Konflikt gerät. Zusammen mit Jóhannsson begann Glotman mit der Überarbeitung ein paar erster Stücke, doch dann wechselte das Duo zur Vertonung des Films MANDY (2018). Damit wurden sie im Januar 2018 fertig, dann sollte die Arbeit an LAST AND FIRST MEN weitergehen, doch Jóhannsson verstarb im Februar 2018. Als Glotman das Projekt wieder aufzunehmen bereit war – der Tod seines Freundes ging ihm sehr nahe – widmete er sich über ein Jahr der Partitur und Finalisierung von LAST AND FIRST MEN. Das Ergebnis ist in voller Länge auf CD 1 zu hören und man kann sich den dazugehörigen Film exklusive und erstmals veröffentlicht auf Blu-ray anschauen. Das Resultat geht unter die Haut und ist wirklich interessant, wenn auch fordernd und von bleierner Schwere und Melancholie geprägt.
Dies überträgt sich auch auf die Musik. Attribute wie zeitlos, geisterhaft, atmend, bedrohlich, reduziert, massierend kommen in den Sinn – doch irgendwie machen all diese Worte die Musik nicht ausreichend «fassbar». Wie bei den meisten Werken von Jóhannsson kann man das Gehörte nur schwer eingliedern und beschreiben. Es macht auch keinen Sinn, einzelne Tracks hervorzuheben. Das Ganze ist eine 65-minütige Klangcollage «im Loop», wie es einem vorkommt. Wie dunkle Wasserfarben in einem Wasserglas, denen man beim sich langsamen vermischen und sich zerteilen ewig zuschauen könnte, weil es einem regelrecht hypnotisiert. Nach den gehörten 65 Minuten fühlt man sich nicht «schlauer» oder hat eine neue Lieblingsmelodie im Kopf. Aber man ist emotional bewegt, man fühlt eine tiefe innere Ruhe – Entschleunigung und «Abkühlung» in Reinkultur. Persönlich gefallen mir Werke wie THE MINER’S HYMN oder das 2018 erschienene Album ENGLABÖRN & VARIATIONS jedoch besser.
Basil 20.12.2020
LAST AND FIRST MEN
Jóhann Jóhannsson & Yair Elazar Glotman
Deutsche Grammophon
65:30 Min.
21 Tracks