Interstellar (Expanded Edition)

2014 erschien mit INTERSTELLAR die fünfte Zusammenarbeit von Regisseur Christopher Nolan und Komponist Hans Zimmer. Film und Filmmusik gaben viel zu reden. In Bezug auf die Filmmusik waren die Äusserungen überwiegend positiv, wobei sich der reguläre 1-CD-Soundtrack wie warme Brötchen verkaufte und auch die 2-CD-Starlight-Limited-Box mit 1 Stunde Extramusik drauf genoss in Sammlerkreisen grosses Ansehen. Letztere wird inzwischen als Rarität auf Online-Market-Places zu einigermassen abgehobenen Preisen feilgeboten. Wer sich diese wegen der Extramusik statt dem Box-Design zulegen will, der kann dies seit November 2020 wieder tun, ohne dabei sein Sparkonto plündern zu müssen. Die Expanded-Veröffentlichung von WaterTower Records aus dem Jahr 2020 beinhaltet das komplette Programm der Starlight-Box – womit der Sammlerwert dieser Box ordentlich ramponiert wurde – plus den knapp 7-minütigen Track «Day One Dark». Wer die Starlight-Box bereit sein Eigen nennen darf, der muss sich diese Expanded-Version wegen den zusätzlichen 7 Minuten nicht zulegen – zumal auch das Booklet mit der alten 2014er-Version identisch ist und der Track «Day One Dark» im Vergleich zu den bereits vorhandenen gut zwei Stunden Musik unspektakulär ausgefallen ist. Dennoch ist diese Expanded-Version sicher für all jene ein Segen, welche die Starlight-Box nicht kaufen konnten, und egal in welcher Version man sich Hans Zimmers Filmmusik zu INTERSTELLAR anhört, sie ist und bleibt eine seiner besten Arbeiten.

Die CD 1 enthält das Programm der «regulären» Veröffentlichung. Bereits der Auftakt mit dem Stück «Dreaming of the Crash» zieht in seinen Bann, denn aus der Stille heraus beginnen Windgeräusche die Boxen zu durchsäuseln. Dies klingt unspektakulär, doch der Wind spielt im Film eine besondere Rolle und die Luft als Grundlage allen Lebens sollte gemäss Hans Zimmer auch in der Musik zentral sein. Zimmer: «Wir wollten keine krachende Perkussion und keine pulsierenden Streichermelodien.» Für die Musik zu INTERSTELLAR fokussierten Nolan und Zimmer auf Blasinstrumente – ein sinniger Gegensatz für eine Geschichte, welche überwiegend im Vakuum spielt, und wodurch die Sehnsucht der Helden im All nach der von Luft und Wind umgebenen Erde heraufbeschwört wird.

Mit diesem Ansatz musste die vorgängig von Hans Zimmer auf Synthesizern und Computern erschaffene Filmmusik (Mockups, quasi) für ein Orchester neu arrangiert werden, wobei der Orgel, in deren Orgelpfeifen dank Luft markerschütternde und intime Töne entstehen, eine Schlüsselrolle zukommen sollte. Zimmer: «Mich fasziniert die Orgel. Seit dem 17. Jahrhundert hat der Mensch Orgeln gebaut. Bis ins 20. Jahrhundert galt sie als komplexestes Bauwerk des Menschen – eine wahre Wissenschaft. Im Zuge der Filmproduktion habe ich mit Chris unzählige Male über den Film gesprochen und wir kamen zur Einsicht, dass INTERSTELLAR trotz allen Science-Fiction-Elementen eine Ode an die Wissenschaft darstellt. Daher schien uns eine Schlüsselrolle für die Orgel als früher Meilenstein der wissenschaftlichen Entwicklung des Menschen sehr stimmig. Zudem begeisterte mich die Vorstellung, dem Orgelklang in meiner Musik eine Hauptrolle zukommen zu lassen.» Neben der Orgel besetzte Zimmer sein INTERSTELLAR-Orchester unter anderem mit vier Klavieren, 24 Blasinstrumenten und 34 Streichern.

Die Streicher und die Orgel wurden Ende Mai 2014 während acht Tagen in der historischen Temple Church in London aufgenommen. Zimmer: «Wir teilten unsere Streicher auf und verteilten sie zugunsten der Klangbalance in der Kirche. Die Abbey Road Studios stellten für uns ein Control-Studio in der Sakristei auf. Dazu kam die Orgel der Temple Church, gespielt von Roger Sayer; eine der umwerfendsten Orgeln der Welt, die 2013 akribisch aufgefrischt wurde.» Zeitgleich leitete Richard Harvey in den AIR-Lyndhurst-Studios im Norden Londons, die sich in der umgebauten viktorianischen Kirche Lyndhurst Hall befinden, die Aufnahmen der Holzbläser.

Bereits im Juni 2013 bestätigte Hans Zimmer in einem Interview, dass er mit seiner Kompositionsarbeit für Christopher Nolans Film begonnen hatte. Im CD-Booklet schreibt Regisseur Nolan: «Mit jedem weiteren Film habe ich versucht, Hans zu einem noch früheren Zeitpunkt in die Produktionsphase einzubinden. Filmmusik kann ich nicht einfach am Schluss über meinen fertigen Film ‹draufstreuen›, für mich gehört sie zu den wichtigsten Ingredienzien.» Dies soll auch geschehen sein, und zwar satte zwei Jahre bevor Zimmer mit seiner eigentlichen Kompositionsarbeit begonnen habe. Das Ergebnis war eine gut 3-minütige Komposition, die Zimmer Nolan mit nach Hause gegeben und die er «Day One» genannt haben soll. Nolan weiter im Booklet-Text: «Dieses Stück, «Day One», habe ich im Anschluss unzählige Male gehört – während ich am Drehbuch arbeitete, während den eigentlichen Dreharbeiten. Das Stück wurde mein emotionaler Anker und es entwickelte sich ebenso zum emotionalen Anker von Hans‘ Filmmusik.»

Das Stück «Day One» beginnt mit einem Thema, das auf dem Klavier vorgetragen wird und von der Harmonieabfolge her an geistliche Musik erinnert. Die mystische, mysteriöse, trauernde Stimmung wird mit dem Einsetzen des distanziert klingenden Orgelspiels in ein dunkles Funkeln gekehrt. Hierbei handelt es sich um eine Version des Hauptthemas, das die Sehnsucht und die Dramatik zwischen dem Hauptdarsteller Cooper, der die Mission ins All leitet, und seiner auf der Erde zurückgelassenen Familie umschreibt. Dieses Thema ist in verschiedenen Variationen immer wieder zu hören. Im ersten und im letzten Stück wird das Thema von Windgeräuschen umspielt und im ersten Stück mischt sich auch ein Donnergrollen mit hinein. Das Einflechten dieser irdischen Geräusche in die eröffnenden und abschliessenden Kompositionen ist eine raffinierte Idee Zimmers. Genau diese Geräusche, die die Erdverbundenheit so unmissverständlich klar machen, müssen die Protagonisten während ihrer Allmission schmerzlich missen. So sehr, dass Cooper in einer Szene auf der Raumstation Wind- und Gewittergeräusche als Musik über seinen mobilen Musik-Player hört.

Ein zweites Thema, das Zimmer mehrmals präsentiert, scheint für das Bedrohende zu stehen. Dieses Thema erklingt zum ersten Mal im Stück «Dust». Relativ schnelles Orgelspiel ist von tiefem, grollendem Bass unterlegt. Die Kombination hat einen dunklen, unnachgiebigen Charakter; das Thema scheint sich vor einem aufzubäumen und wie ein jüngstes Gericht daherzukommen. Ob diese Assoziation dem Orgelspiel geschuldet ist, sei dahingestellt, doch funktioniert diese Idee im Film hervorragend und auch auf CD ist das Thema schön anzuhören.

Im Vorfeld der Premiere von INTERSTELLAR betonte Hans Zimmer mehrmals, dass er sich wünscht, dass sich das Publikum seine Musik zuerst im Kino, mit gigantischem Sound und zusammen mit den Bildern auf Grossleinwand anhört. Nach dem Kinobesuch kann man diesen Wunsch nachvollziehen: im Kino bildet Zimmers mal intime, mal sakrale, stets hypnotische Komposition mit repetitiven Orgel- und Streicherfiguren einen regelrechten Rausch. Er schafft eine Musikwelt, die zugleich vertraut, nostalgisch, schwer und altehrwürdig klingt, aber auch stets nicht greifbar, luftig und fremdländisch wirkt. Dabei bilden die Stücke «Dust», «Stay», «Detach» und «Where We’re Going» Kernstücke der Komposition, die auch im Film eine starke Präsenz erhalten und kraftvolle Sequenzen begleiten dürfen. Diese Stücke kreieren denn auch als reines Hörerlebnis eine Sogwirkung, der man sich gerne hingibt, wobei die Musik mit Sicherheit einen grösseren emotionalen Impact erhält, wenn man den Film vorgängig gesehen hat und einem der filmische Kontext bekannt ist. Hingegen haben Stücke wie «Message from Home», «The Warmhole», «Running Out» und einzelne Passagen von «Coward» als Hörerlebnis abseits der Bilder einen schwierigeren Stand, da sie bei «nachbarschafts-freundlicher» Lautstärke etwas unterzugehen drohen. Im Film hingegen werden sie von den Bildern toll verstärkt. Und die bedrohliche Zurückhaltung, die mysteriös-verspielte Entschlossenheit und die teils erschütternde Lautstärke der Orgel macht diese Musik faszinierend und unvergesslich.

Noch kurz zur CD 2: In den letzten Jahren hat es sich mehrmals zugetragen, dass von neuen Hans Zimmer Filmmusikalben zwei oder mehr Versionen veröffentlicht wurden. Punkto Quantität und Qualität lohnt sich die 2. CD von INTERSTELLAR definitiv (was bspw. bei BATMAN V SUPERMAN nicht der Fall war). Hier findet der Hörer mit den Stücken «Flying Drone» und «No Time for Caution» zwei Highlights, deren Absenz auf der regulären 1-CD-Veröffentlichung für regelrechtes Kopfschütteln gesorgt hatte. Zudem ist das 11-minütige Stück «Murph» eine fantastische Erweiterung des Emotionalen «Stay» (CD 1) und geht unter die Haut. Die weiteren Stücke sind – lapidar verallgemeinert – «mehr vom Selben», wobei dies im Falle von INTERSTELLAR nicht zum Nachteil gereicht. Gerne hätte man im CD-Booklet noch ein paar Ausführungen zum hier neu präsentierten Stück «Day One Dark» gelesen. Es handelt sich hierbei nicht einfach – wie man vermuten könnte – um eine Variation des bekannten «Day One»-Tracks, sondern um ein grollendes, atmosphärisches Stück, dass allenfalls aus der frühen Mockup-Phase stammt, währen der Hans Zimmer mit Salisbury-Kathedrale-Orgel-Samples auf dem Synthesizer gearbeitet hatte. Abschliessend kann ich dies indes nicht bewerten. Für Sammler mag dieser Zusatz sicherlich reizvoll sein, aber neue musikalische Ideen findet der Hörer hier keine. Mit INTERSTELLAR ist Hans Zimmer eine Filmmusik gelungen, die frisch und originell geworden ist. Eine tolle Musik im Film, aber auch abseits der Bilder. Daran hat sich auch gut sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung noch nichts geändert und INTERSTELLAR kann weiterhin zu einer von Zimmers besten Arbeiten gezählt werden. Gerade im Kino selbst erhält die Musik etliche Male eine ungeheure, ja stellenweise fast schon aufdringliche Wucht durch eine hohe Lautstärke. Doch zusammen mit den tollen Bildern und dem hypnotischen, repetitiven Charakter einzelner Kompositionen wird ein effektvoller Sog geschaffen, in dem man sich gerne für zwei Stunden verliert.

Basil 17.5.2021

 

INTERSTELLAR (Expanded Edition)

Hans Zimmer

Sony Music

139:09 Min. / 30 Tracks