In the Land of Saints and Sinners

Die Filmmusik zu IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS (2023) darf zu den Genre-Überraschungen des Jahres 2023 gezählt werden. Dies deshalb, weil hier musikalisch viel mehr geboten wird, als so manche vergleichbare Arbeit, die man sonst zu Thriller-Dramen dieses Zuschnitts zu hören bekommt (hierzu später mehr). Komponist Diego Baldenweg liefert zusammen mit seinen Geschwistern Nora und Lionel Vincent Baldenweg eine Filmmusik für Orchester, Chor und Solisten, die trotz benötigter atmosphärischer Dichte aufgrund des bedrückenden, bleihaltigen Filminhalts nicht auf eingängige Themen, stilistische Vielfalt und starke Emotionen verzichtet. Regisseur Robert Lorenz beschreibt den Klangcharakter der Musik trefflich als «reichhaltig» und «erfüllend» und hierin liegt die vorgenannte Überraschung, denn die im Film erzählte fatalistische Geschichte rund um eine Vielzahl gebrochener Charaktere hätte eine ebenso rein atmosphärische, gefühlskühle, minimalistische Klangcollage zur Folge haben können. Doch hier treffen sinfonische Musik auf irische Klangfarben und Morricone-esque Western-Stilismen; eine Kombination, die im geradezu programmatisch betitelten Stück «Irish Western Ballad» grossartig anzuhören ist – auch abseits der Filmbilder.

IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS spielt im abgelegene Küstenstädtchen Glencolmcille, gelegen in der Grafschaft Donegal – im «Forgotten County» –, im westlichsten Zipfel Irlands, und erzählt die Geschichte von Finbar (Liam Neeson), ein ausgebrannter Zweit-Weltkrieg-Veteran, der nach dem Tod seiner Frau zum Alki wird. Doch auch hierfür braucht es ein Einkommen und dieses verdient sich der Ex-Soldat als Auftragskiller. Mit den Jahren kommt er indes immer mehr ins Grübeln. Er möchte seinem Handwerk abschwören und sich vom irischen «Ländle» in den Sunny-State Kalifornien absetzen – was für ein kontrastreiches Fernweh. Doch dann, im Jahr 1974, kommen ein paar IRA-Terroristen ins verschnarcht wirkende Glencolmcille. Sie wollen sich hier verstecken, nachdem sie mit einem Autobombenanschlag unter anderem den Tod dreier Kinder zu verantworten haben und daher gesucht werden. In Glencolmcille geraten sie indes schon bald an Finbar, weil dieser mit einem Bekannten von ihnen kurzen Prozess gemacht hat. Ein bleihaltiges Katz-und-Maus-Spiel spitzt sich bis zum Showdown vor dem örtlichen Pub zu.

Diese Geschichte erzählt IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS wenig zimperlich, gradlinig und bedrückend. Vergleichbares gab es schon oft zu sehen, wobei hier die irische Landschaft mit all ihren schönen, mystischen und zugleich beklemmenden, kühlen Facetten als eindringliche Seelenlandschaft und verstärkendes Erzählelement positiv heraussticht. In Bezug auf die Musik bieten solche Filme indes eher selten grosse, nachhallende Emotionen. Dies trifft auch auf frühere Werke der hier involvierten Produzenten und des Regisseurs zu. Weder TROUBLE WITH THE CURVE (2012) noch THE MARKSMAN (2021) noch AMERICAN SNIPER (2014) oder MYSTIC RIVER (2003) boten filmmusikalische «Aufregung», wenn auch alle Arbeiten filmdienlich waren. Im Thriller-Genre zeigen sich selbst die grössten Filmmusik-Namen oftmals enttäuschen unterkühlt und überwiegend auf Funktionalität bedacht, mit einer Ausnahme, die mir in diesem Kontext wiederholt in den Sinn kommt: Carter Burwell, dessen zumeist (kammer-)orchestrale Filmmusik für ähnlich fatalistische Erzählungen und Charakteren immer wieder mit berührenden, eingängigen Motiven und Themen aufwartet, statt in austauschbarem, oftmals Synthesizer-dominiertem Underscoring zu mäandern. Und einen solchen Ansatz verfolgen nun auch die Baldenweg-Geschwister für IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS.

Die Filmmusik wurde im Studio der Baldenweg-Geschwister in Zürich und in den Galaxy Studios in Belgien aufgenommen. Neben dem Galaxy Symphonic Orchestra und Sängerinnen und Sängern des Vlaams Radiokoor waren zahlreiche Solisten beteiligt, wobei die oftmals anführenden Mundharmonika-Soli vom Vater der Baldenweg-Geschwister, Pfuri Baldenweg, eingespielt wurde. Auch Komponist Diego Baldenweg ist als Solist zu hören – auf der Mandoline, dem Bass, diversen Gitarren und Perkussionsinstrumenten. Weiter wurden Soli auf Klavier, Violine und Timpani separat aufgenommen. Dirigiert hatte Dirk Brossé. Interessant in diesem Zusammenhang sind Ausführungen von Pfuri Baldenweg, der neben zahlreichen Melodien auch allerhand Soundeffekte mit seiner Mundharmonika ausgetüftelt hat – sein Spiel reicht dabei von schönen, mystischen Melodien über den legendären Morricone-Sound aus ONCE UPON A TIME IN THE WEST (bspw. im Stück «Intruders») bis hin zu rein rhythmischen Figuren und effektvollen bis unheimlichen Atemgeräusche-Imitationen.

Entsprechend der erzählten Geschichte führen ein Hauptthema für die irische Umgebung sowie ein Thema für den Protagonisten Finbar wie ein roter Faden durch die Komposition. Hinzu kommt ein Bösewicht-Motiv für die IRA-Schergen. Ersteres eröffnet die Filmmusik im Stück «Fleeing West», wobei dieses dunkle Motiv schon bald auf eine kraftvolle Finbar-Thema-Version trifft (begleitet von INCEPTION-esquen Brass-Drohgebärden), womit diese Eröffnung eigentlich die Filmhandlung vorwegnimmt, denn dieses Aufeinandertreffen der Themen und Motive prägt die ganzen 55 Minuten des Albums. Die Highlights dieser Filmmusik liegen indes in den melancholischen, melodiösen Momenten – angeführt vom abschliessenden Fernweh in «This Land» und Stücken wie «A Lifetime of Poor Choices», «Over the Ocean» und das «Lullaby of Gleann Cholm Cille». Ohrwurmcharakter haben die Stücke «Lone Ranger» und die bereits erwähnte «Irish Western Ballad».

Fazit: Bereits mit früheren Arbeiten für ZWINGLI (2019) und THE LIFE UNDERGROUND (2020) lieferten Diego, Nora und Lionel Vincent Baldenweg Filmmusik ab, die sich dank starken thematischen Ansätzen und prägnanten stilistischen Überblendungen hervorgetan haben. Nach musikalischen Ausflügen ins Mittelalter mit sakralen Klängen, über die Jazz-Orchester-Kombi für LIFE UNDERGROUND und vorwitzigen Big-Band-Stilismen für BORN TO SPY (2022) liefern sie nun mit IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS eine wirklich grossartige Kombination aus orchestraler Thriller-Musik, die mit irischer Melancholie und treibenden, rhythmischen Western-Stilismen eine wiederum originäre eigene Klangwelt schafft, wobei die Musik lange nachzuhallen vermag. Schön, dass ein solcher themengetriebener, orchestraler Filmmusik-Ansatz in einem zeitgenössischen Thriller-Drama Platz gefunden hat.

Basil  |  19.06.2024

IN THE LAND OF SAINTS AND SINNERS
Diego Baldenweg mit Nora Baldenweg und Lionel Vincent Baldenweg
Sony Music Masterworks
55:19 | 26 Tracks