Review aus The Film Music Journal No. 33/34, 2005
Franco Piersanti gehört zweifellos zu den profiliertesten italienischen Filmkomponisten der letzten Jahre, wird aber hierzulande kaum von einem größeren Interessentenkreis wahrgenommen. Dies liegt nicht nur an den oft unbekannten Filmen, wenn man einmal von seiner Zusammenarbeit mit Regisseur Gianni Amelio für LADRO DI BAMBINI (1992) oder LAMERICA (1994) absieht, sondern auch an Piersantis zumeist recht modernistischem und gelegentlich mit minimalistischen Mitteln arbeitendem Tonsatz. Gewöhnlich sind seine Scores als spröde und eigenwillig zu bezeichnen, so daß man ihn mit Sicherheit nicht als weiteren Morricone-Epigonen abklassifizieren kann. Selbst ich konnte mich bisher deshalb nur für wenige seiner Soundtracks begeistern.
Mit I RAGAZZI DELLA VIA PAL, der TV-Verfilmung eines in Ungarn sehr bekannten und im Budapest der Jahrhundertwende angesiedelten Jugendbuchs von Ferenc Molnar über sich gegenseitig befehdende Gymnasiasten und Realschüler, hat er nun ein unerhörtes Meisterstück abgeliefert und dabei diemeisten seiner gegenwärtigen Kollegen hinsichtlich des kompositorischen Niveaus um Längen abgehängt. Jedoch ist dies kein Score, der sich sofort beim erstmaligen Kennenlernen erschließt, sondern diese Musik will mehrfach und vor allem konzentriert angehört werden – ähnlich wie es Matthias im letzten FMJ für Harveys LUTHER-Score veranschlagt hat.
Ungewöhnlich für eine Filmmusik des Jahres 2004 ist vor allem, wie vielschichtig Piersanti hier arbeitet, wie er Haupt- und Nebenstimmen der einzelnen Orchestergruppen völlig überraschend gegeneinander setzt, sie sich voneinander entfernen und dann wieder annähern läßt, ja geradezu mit ihnen spielt, und noch dazu welche kühnen Freiheiten er sich nimmt, ohne auf der anderen Seite trotz der geradezu konzertanten Ausarbeitung irgendwie akademisch zu wirken. Der Knackpunkt liegt in der wunderbaren Gratwanderung, die Piersanti gelingt, indem er melodisch-romantische Teile mit recht herben und harschen Dissonanzen verbindet, durch die die Musik aber erst ihre eigentliche Komplexität erhält.
Nehmen wir die 7-minütige lange Suite im ersten Track «I Ragazzi»: Was beginnt wie ein klassisches Klavierkonzert, wird zunächst aufgesogen von einem federnd-leichtfüßigen Rhythmus, der sich über das ganze Stück legt. Eine solistisch eingesetzte Harmonika gibt das wehmütige Hauptthema vor, wird aber immer wieder unterwandert von klangsinnlichen und oft dissonanzreichen Farbtupfern der gestopften Bläser und der Pizzicato-Streicher, bis ein grotesk verzerrter Marsch für volles Orchester die Oberhand gewinnt, der wiederum von delikaten Einsprengseln der Harmonika und der Mandoline durchbrochen wird. Konstant wird jedoch der teilweise fast tänzerisch anmutende, teilweise furios energiegeladene Rhythmus in der Begleitstimme durchgehalten.
Das Faszinierende an Piersantis Score tritt bereits hier offen zutage: Er schafft es, den Hörer über die ganze Länge der CD hinweg in dieser ständigen Spannung von Nähe und Distanz, Emotionalität und Nüchternheit zu halten, so daß die Musik immer überraschend bleibt und mit wunderbaren Klangfarben und übereinandergelagerten Klangschichtungen aufwarten kann. Die ungewöhnlichen Reibungen, die sich aus diesen Kollisionen ergeben, lassen eine sehr intensive Komposition entstehen, die innerhalb der aktuellen Filmmusik-Landschaft etwas ganz Besonderes und Kostbares darstellt. Die Musik kann eben dadurchwie eine Art Sog funktionieren,der einen auf beeindruckende Art und Weise gefangen nimmt.
Und alles endet schließlich im letzten Track in einem betörend schönen und einfach ergreifenden Streichquartett, in dem noch einmal die Hauptmotive in subtiler Transparenz zum Schwingen gebracht werden. An äußerster Expressivität läßt gerade dieses Stück so gut wie keine Wünsche offen. Ein solch durchdachtes, superb ausgearbeitetes und intrikat verästeltes sinfonisches Werk, das fraglos zum Besten gehört, was dieses Jahr an neuer Filmmusik vorgelegt worden ist, schreibt man nicht in ein paar Tagen aufs Papier. Piersanti hat unglaublich viel Arbeit, Hingabe und Herzblut in diesen Score gesteckt – und das ist wahrhaftig herauszuhören, auch im leidenschaftlich vorgetragenen Spiel des noch jungen Orchestra Città Aperta.
Stefan | 2005
I RAGAZZI DELLA VIA PAL
Franco Piersanti
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57:47 | 18 Tracks