Review aus The Film Music Journal No. 13/14, 1998
Die Defizite einer modernisierten Klassiker-Inszenierung liegen ja auf der Hand, und wer sich dergleichen dennoch zu Gemüte führt, sucht kaum nach der Angemessenheit gegenüber der Vorlage, interessiert sich vielmehr für den individuellen Zugriff in frischen Gewändern und Kulissen.
Cuaròns Neuverfiilmung von Charles Dickens’ GREAT EXPECTATIONS spielt in den achtziger Jahren an den Stränden Floridas sowie zwischen den Häuserfluchten New Yorks, und der Regisseur hat erfreulicherweise gar nicht erst versucht, den Schwarzweiß-Klassiker von 1946 (mit John Mills) an Naturalismus zu übertreffen, setzte stattdessen auf gediegenes Ausstattungskino und große Stars. In den ersten 20 Minuten ist man überzeugt davon, in einem erstrangigen Film zu sitzen, aber nach der poetischen Eröffnung verliert sich das Drehbuch an geschmäcklerische Dialoge und aufgedonnerte Bildfolgen, Ethan Hawke und sein Michael-Stich-Gesicht wirken völlig unbeteiligt an den Ortswechseln, und zu allem Überfluß wurde der Music Editor von allen Geistern verlassen: im Mitteldrittel hört man an den dramaturgisch wichtigsten Stellen Popmusik der sinnlosesten Art, wodurch die Atmosphäre endgültig den East Side River herunterfließt. Erst das Vorfinale mit Karl Marx in einer Nebenrolle (als Robert de Niro) überzeugt dann wieder. Lauwarmer Beifall bei der Berlinale-Premiere.
Zwischen all dieser Ratlosigkeit verliert sich Patrick Doyles erneut hörenswerte Eigenkomposition beinahe. Und zu Beginn der Score-CD (es gibt überdies ein Song-Album) glaubt man bereits, mit Dickens in einen Softporno geraten zu sein. Das nach dem gepfiffenen Hauptthema einsetzende Gestöhne von Tori Amos kann man sich jedenfalls erst mal schenken und gleich zum vierten Track übergehen.
Von da an jedoch geht es beständig aufwärts, denn nun fährt Doyle sein ganzes melodisches Können auf, wobei sein Beitrag zur Modernisierung des Stoffes erwartungsgemäß nicht in neutönerische Gewässerführt, sondern rechts und links mal poppige, dann jazzige Kostüme aufgreift und den Themen überstülpt. Weil man die aber bereits kennt, ehe die Jazz-Tracks einsetzen, sollten auch traditionell gesonnene Soundtrackfans mit der CD zufrieden sein, denn zwischen dem orchestralen Teil sowie den vokalen, elektronischen und Jazzelementen besteht hier eine innermusikalische Brücke.
Estellas hinreißend sentimentales Thema, im vierten Stück (gespielt vom Gitarristen John Williams) erstmals zu hören, wird für die Regenszene (No. 8) beschleunigt, um in «The Day All My Dreams Came True» mit ungebremster Pathetik dem Orchester übertragen zu werden. Für die Arie «Saw No Shadow Of Another Parting» vertonte Doyle einen eigens Iyrisierten Dickens Text und ließ die berühmte Sopranistin Kiri te Kanawa verpflichten. Ihr opernhaftes Stück liegt nahe an entsprechenden Vokalisen aus SENSE AND SENSIBILITY.
Patrick Doyle benötigt also keineswegs einen Gesundheitsbonus seitens der Rezensenten. Mit seinen vielseitigen GREAT EXPECTATIONS knüpft er vielmehr nahtlos an das hohe Niveau von HAMLET und DONNIE BRACSO an und beweist, warum er einer der prägnantesten unter den konservativen Filmkomponisten dieser Tage ist.
Highly recommended!
Matthias | 1998
GREAT EXPECTATIONS
Patrick Doyle
Atlantic 83063-2
50:21 | 22 Tracks