Fernando Velázquez: Eine Filmmusik-Reihe (Teil 4)

von Klaus Post

In diesem Teil spielt die Nummer 4 eine spezielle Rolle. Und das nicht nur, weil es (trivialerweise) der vierte Teil der Velázquez-Reihe ist, sondern weil in diesem Teil vier besonders gelungene Thriller-Scores von Velázquez besprochen werden sollen. Und darüber hinaus soll auch das Label Quartet Records lobend erwähnt werden. Das spanische Soundtrack-Label bringt nämlich den Löwenanteil von Velázquez‘ Scores auf CD. Und das immer in hervorragender (Ton- und Abmischungs-) Qualität. Die Booklets sind zwar eher sparsam gehalten und beschränken sich auf die Credits, aber das Album selbst kommt fast immer – sofern es die Länge des Scores hergibt – in einer Laufzeit zwischen 60 und 75 Minuten, was darauf schließen lässt, dass kaum oder nur wenig Material bei der Veröffentlichung unter den Tisch fällt. Das kennen wir von z.B. Varèse in früheren Zeiten ganz anders. Und selbst, wenn es mal keine besonders auflagenstarke Veröffentlichung zu werden verspricht, ist Quartet immer noch für eine limitierte 500er Edition zu haben, ohne dass deshalb besonders hohe Preise aufgerufen werden. Das lässt das Sammlerherz doch höher schlagen! Weiter so, Quartet!

Nun aber zur Besprechung der nächsten vier Scores. Alle vier der besprochenen Thriller bestechen filmisch durch ihre Atmosphäre und zeigen erstklassiges, spanisches Kino. Und dass im vierten Teil dieser Reihe alle vier Scores in ihrer Bewertung um die vier Punkte liegen, ist doch sicher nur Zufall, oder? Nein, ist es nicht. Qualität ist kein Zufall!

 

EL GUARDIÁN INVISIBLE (DAS TAL DER TOTEN MÄDCHEN)
Fernando Velázquez
Quartet Records
67 min
17 Tracks

Die Filme der Baztán-Trilogie (benannt nach der baskischen Region, in der die Filme spielen), in denen es um Fanatismus-motivierte Ritualmorde geht, bauen inhaltlich aufeinander auf und zeichnen sich alle samt aus durch ihre dichte, düstere Atmosphäre und profitieren dabei von der malerischen, baskischen Umgebung. Diesem Grundton folgt auch Velázquez‘ Musik durch alle drei Teile, soviel sei schon vorweggenommen. Keine reißerische Action-Musik, sondern teils subtile, teils emotionale Begleitung, die sich stets ins große Ganze einfügt. Alle drei Scores werden großartig dargeboten vom Navarra Symphonie Orchester.

Gleich zu Beginn des ersten Teils EL GUARDIÁN INVISIBLE wird uns das Hauptthema als Eröffnung vorgestellt. Es ist ein getragenes, zurückhaltendes und eher melancholisches Thema, das, wie fast immer bei Velázquez, das Rückgrat des Scores bildet, ab und zu („Ir Al Origen“) aber auch mal einen  kurzen, heftigen Gefühlsausbruch erleben darf.

Hin und wieder ergänzt Velázquez das Orchester um einen Chor. Diese Chor-Einsätze sind mal mystisch und mal dramatisch emotional, wie z.B. im Track „Amaya Y Su Madre“, einem Highlight des Albums mit kurzzeitig vollem Chor und Orchester.

Dadurch, dass sie aber nur selten sind, wirken die Choreinsätze umso pointierter.

Wenn es dann doch mal aktionsreicher wird, weiß Velázquez seine typischen, rhythmusgebenden Streicherläufe mit zum Teil besonders markanter und treibender Percussion sehr effektiv zu ergänzen, wie zum Beispiel in „Los Motivos Del Asesino“.

Velázquez hat aber noch eine ganz andere Überraschung in petto, nämlich: ein weiteres Thema! Für seinen Kompositionsstil ungewöhnlich.

Zum ersten Mal zu hören ist es in „La Historia Del Basajaun“, und zwar in dessen Einleitung, sehr subtil und kaum erkennbar. Es soll der Einfachheit halber als Investigationsthema bezeichnet werden, zumal es im folgenden Track „Investigación“ zum ersten Mal ganz ausgespielt zu hören ist, im weiteren Verlauf immer mal wieder durchblitzt und am prominentesten im Schlussstück „El Guardián Invisble“ zu hören ist.

Auch dieses Thema ist eher zurückhaltend, vermag aber je nach Arrangement entweder Spannung zu vermitteln und obskur zu klingen oder, wie im Abspann, fast schon schwungvoll.

Insgesamt rollt Velázquez hier einen besonders dicht gewebten, vielschichtigen Klangteppich aus, der durch alle Register des Orchesters geht und in bester Howard-Shore-Thriller-Qualität (ohne Shore zu imitieren!) für die düster-melancholische Atmosphäre sorgt, wechselnd zwischen langsamen melodischen Passagen und dramatischer Suspense mit allen Schattierungen dazwischen und zum Teil langen Spannungsbögen sowie weit ausholender Melodieführung und Orchestrierung.

Ein echtes Schmankerl von Thriller-Musik!

 

LEGADO EN LOS HUESOS (DAS TAL DER VERGESSENEN KINDER)
Fernando Velázquez
Quartet Records
59 min
15 Tracks

Den zweiten Teil setzt Velázquez stilistisch so fort, wie er mit Teil eins begonnen hat. Sowohl das Hauptthema als auch das Nebenthema werden weiterverwendet und kommen gleich in den ersten beiden Tracks zum Einsatz. Auch den Chor setzt Velázquez wieder ein, diesmal sogar etwas häufiger als in Teil eins und das nicht nur als ergänzendes Stilmittel, sondern auch begleitend, also mit der gleichen Melodieführung, wie das Orchester, wie z.B. in „Elizondo“. Dadurch klingen diese Stücke zwar voller, aber nicht zwangsläufig vielschichtiger.

Die markanten Percussion-Einsätze aus dem ersten Teil führt Velázquez leider so nicht fort, sondern ersetzt sie nicht nur in den action-geladenen Passagen, sondern auch in den Suspense-Passagen vornehmlich durch Synthesizer-Elemente. Einzige Ausnahme (neben einem kurzen Aufblitzen in „Vamos A Por Él“) bildet hier „Hay Alguien“, wo zusätzlich auch noch besonders ausgeprägt die Streicherläufe für Tempo sorgen und somit das Action-Highlight des Scores markieren.

Zuvor bietet „El Álbum Familiar“ eine besonders gelungene Variation des Hauptthemas überlagert mit einem dominanten Klavier-Lauf. Hier ist wieder einer dieser typischen Velázquez-Momente, in denen er sehr viel unterschiedliche Emotionen in ein Stück zu stecken vermag. In diesem Fall ist es vielleicht eine Mischung aus Vertrautheit, Skepsis und Entfremdung.

Insgesamt jedoch stellt man fest, dass sowohl das Haupt- als auch das Nebenthema deutlich sparsamer eingesetzt werden, als beim ersten Teil, worunter der Score etwas leidet, denn so geht ein wenig musikalischer Zusammenhalt verloren.

Auch das Arrangement wirkt insgesamt weniger vielschichtig, wodurch der Klangteppich im zweiten Teil spürbar dünner gerät als im ersten.

Zu allem Überfluss gesellt sich mit „Luz y Sombra“ auch noch ein ziemlich überflüssiger Popsong ins Tracklisting.

Dennoch bleibt LEGADO EN LOS HUESOS ein sehr solider Thriller-Score mit einzelnen Highlights und allen Vorzügen des Originals, bloß dass diese hier weniger ausgeprägt sind.

 

OFRENDA A LA TORMENTA (DAS TAL DER GEHEIMEN GRÄBER)
Fernando Velázquez
Quartet Records
66 min
17 Tracks

Auch im letzten Teil der Trilogie bleibt Velázquez dem stilistischen Weg treu, den er in den ersten Teilen eingeschlagen hat. Das macht er uns gleich im ersten Stück „Solo Queremos Hablar Con Usted“ klar, das nach Suspense-vollem Einstieg eine ordentliche Duftmarke in puncto Action setzt, inkl. tiefer, bedrohlicher Chorstimmen.

Das bekannte Hauptthema wird ganz zaghaft im nächsten Stück „Inguma“ erstmals angedeutet. Übrigens fällt auch im letzten Teil der Einsatz dieses Themas weniger üppig aus als im ersten Teil. Und auf das Nebenthema aus Teil eins und zwei müssen wir diesmal ganz verzichten.

Während zu Beginn dieses Scores der Schwerpunkt eher auf Suspense-Scoring liegt, wendet sich spätestens ab dem Track „Nunca He Compartido Esto Con Nadie“ das Blatt. Hier hören wir ein Stück mit ausgeprägter Melancholie. Eine entfernte Solostimme begleitet vom Klavier und sehr langsamer Melodieführung, die schließlich in das Hauptthema mündet, sorgen für ein Gefühl von Einsamkeit.

Ab diesem Track nimmt die Melancholie überhand und liegt wie eine schwere Decke über allem. Folglich wird es allerdings auch melodischer, was dem Hörerlebnis zuträglich ist.

Ein weiteres Highlight in dieser Richtung stellt „Quédate Commigo“ dar: ein Cello sanft begleitet von zurückhaltendem Chor und Orchester. Fast wie ein Requiem, was dann tatsächlich schon im nächsten Stück „Ofrenda“ in einem wunderbaren, langsamen Choral vorgetragen wird.

Dass dann im letzten Teil des Films sehr viel passiert, um zur Auflösung der Mordserien zu gelangen, schlägt sich interessanterweise nicht so in der Musik nieder.

Track 14 „Los Lobos No Se Suicidan“ beginnt mit düsterer Spannungsmusik, bevor das Stück zur melodramatischen Auflösung kommt und Velázquez somit die Schlussphase einläutet.

Bald darauf folgt mit Track 16 das 15-minütige Finale. Dieses startet zunächst mit einem ausführlichen, spannungsgeladenen Crescendo, schlägt dann aber einen langen, betulichen Spannungsbogen zum Schlussteil. Dieser klingt jedoch eher entrückt und keineswegs dramatisch, als wolle er in seinem schwermütigen Ausklang Fassungslosigkeit vor den Geschehnissen zum Ausdruck bringen.

Beschlossen wird der Score von einer zweiten Variante von „Quédate Commigo“, diesmal mit Chor und Solostimme, statt Cello und das Gefühl von Ohnmacht aus dem vorhergehenden Stück setzt sich damit fort.

Im letzten Teil der Trilogie schließt Velázquez wieder auf zur atmosphärischen Dichte des ersten Teils. Den zu sparsamen Gebrauch des Hauptthemas und den Verzicht auf das Nebenthema versüßt uns Velázquez allerdings mit ein paar besonderen Leckerbissen, so dass man insgesamt mit dieser musikalischen Trilogie eine sehr runde Sache und hervorragende Thriller-Musik genießen kann.

 


DURANTE LA TORMENTA (PARALLELWELTEN)
Fernando Velázquez
Quartet Records
62 min
14 Tracks

Die Netflix-Produktion DURANTE LA TORMENTA ist ein ausgeklügelter und intelligenter Thriller, der sich um eine Zeitanomalie in Form eines ungewöhnlichen Gewittersturms dreht. Tatsächlich steht dabei aber gar nicht so sehr die Zeitanomalie selbst im Fokus, sondern viel mehr deren Auswirkungen auf die Hauptfigur, die zwar durch die Anomalie ein Leben retten kann, ihr eigenes damit aber völlig auf den Kopf stellt.

So wenig reißerisch und unaufgeregt, wie der Film hat auch Velázquez seinen Score aufgebaut.

Er bleibt fast immer melodisch (oder wird zumindest nicht dissonant), auch dann, wenn er Spannung aufbauen will. Dabei helfen ihm des öfteren geschickt integrierte, wohldosierte und wirkungsvolle Synthie-Effekte, mit denen er das Orchester ergänzt.

Das zurückhaltende und sehr gefühlvolle Hauptthema beginnt als 3-Ton-Motiv, bevor es sich in einen ergänzenden Melodielauf weiterentwickelt. Sehr schön ist dies in „Un Nuevo Hogar“ zu hören. Selbstredend baut Velázquez das Thema immer wieder in den Score ein, in immer neuen Variationen. Mal für Klavier, mal für Oboe und einmal sogar als Spieluhr. Besonders effektvoll wirkt die leidenschaftliche Interpretation des Themas durch Violinen, kontrapunktiert durch einen bedrohlichen Rhythmuslauf aus Streichern, Pauken und Bläsern gegen Ende des Stückes „ Observa Y Recordaras“.

Grundsätzlich vertont Velázquez hier die ruhigeren Passagen mit weit greifenden, getragenen Melodieführungen, während er in den Spannungssequenzen wieder seine wunderbaren, treibenden Streicherrhythmen einsetzt.

Und auch dieses Mal beglückt uns der Meister mit einem Nebenthema, das zunächst nur sehr subtil und unauffällig anklingt und der Schlüsselfigur des Films, Nico, zugeordnet werden könnte.

Ein Highlight des Scores ist definitiv „La Historia De Nico Lasarte“: zunächst ködert uns Velázquez mit einer ausladenden Crescendo-artigen Intensitätssteigerung, die immer wieder das Hauptthema aufgreift, bevor sich plötzlich eine begleitende E-Gitarre und ein Schlagzeug ausgesprochen effektvoll dazu gesellen, dabei aber so selbstverständlich klingen, als wären sie schon die ganze Zeit dabei gewesen. Bis schließlich das erwähnte Nebenthema im emotionalen Höhepunkt üppig ausgespielt wird.

Überhaupt häufen sich im letzten Drittel des Scores die emotionalen Momente mit besonders intensiver und emotionaler Ausführung der beiden Themen.

Man spürt förmlich, wie das musikalische Konzept dieses Scores zum Ende hin aufgeht und einen großartigen, sensiblen, emotionalen Thriller-Score ausbreitet.

 

 

< zu Teil 1
< zu Teil 2
< zu Teil 3