Les enfants du siècle

Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000

Welches Instrument hören wir, wenn es in neueren amerikanischen Filmen eine sentimentale Wendung gibt oder sich eine Liebesszene anbahnt? Richtig geraten – es ist das allzeit präsente Klavier. Nicht dass dieses Instrument negativ besetzt wäre, ist das eigentliche Grundübel, sondern in welcher Form es heutzutage eingesetzt wird. Man höre sich nur mal einige Thomas Newman-Scores (ich könnte genauso gut auch sagen: einige James Newton Howards, Cliff Eidelmans oder Danny Elfmans etc., etc.) aus den letzten paar Jahren an und man wird leicht feststellen, daß mehr auf der Tastatur herumgeklimpert wird – ein Klavierläufchen ein paar Töne rauf, dann ein Klavierläufchen ein paar Töne runter (oder zur Abwechslung eben umgekehrt), möglichst in einer Endlosschleife dargeboten -, als dass ein starkes oder aussagekräftiges Thema entwickelt würde.

In den bekannt-beliebten Soundtrack-Fanzines werden solcherlei Kompositionskünste desöfteren als der letzte Schrei der Moderne in den Himmel gezerrt. Ob diese nun vom New Age oder mehr vom Minimalismus beeinflußt sind, spielt kaum eine Rolle. Dagegen steht eines fest: Solcherart Tonmalerei ist pure Manipulation des Zuschauers, der damit einer Dauerberieselung ausgesetzt wird, diese aber bewußt gar nicht mehr wahrnimmt, sondern vielmehr in einen Kokon eingewickelt wird, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Da kommt eine Frischzellenkur, wie sie sich mit Luis Bacalovs LES ENFANTS DU SIÈCLE anbietet, gerade recht, um einiges ins passende Licht zu rücken.

Für dieses in der Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelte Melodram mit Juliette Binoche – es geht um die Liebesgeschichte zwischen der Schriftstellerin George Sand und dem Dichter Alfred de Musset – greift auch Bacalov teilweise zum Klavier. Doch welch ein Unterschied im Aufbau, in der Entwicklung und im Gestus des thematischen Materials. Hier bewahrheitet sich wieder mal das alte Motto bei der Endung hinreißender Melodieschöpfungen: den Italienern liegts ganz einfach im Blut. Dazu kommt die italienische Operntradition mit ihrem Belcanto, die selbst noch bei Bacalov zu spüren ist. Man glaubt es kaum, welche Riesensprünge gerade Bacalov seit seinem IL POSTINO-Oscar 1996 gemacht hat, und der vorliegende Score ist ein wahres romantisches Kleinod.

Die Klavierfassung des hinreißenden Hauptthemas im letzten Track ist zum Beispiel mit Verzierungen und kapriziösen Wendungen ausgestattet, von denen mancher neuzeitliche Amerikaner nur träumen kann. Da hört man eben auch heraus, daß Bacalov eine Ausbildung beim legendären Arthur Schnabel genoß und selbst früher als Konzertpianist tätig war. Bereits im titelgebenden Track «Les enfants du siècle» wird das wunderbar einprägsame Liebesthema – vielleicht das Schönste und Anrührendste, das im letzten Jahr komponiert wurde – von einer Gitarre solistisch vorgetragen, begleitet von einem hohen Streicherteppich, der für eine dezente Atmosphäre sorgt. Bereits im zweiten Track («Les confessions») beginnt Bacalov, mit diesem Material zu spielen, es auszuweiten und in ein wahrhaftes Klavierkonzert zu verwandeln.

Für verspielte Abwechslung sorgen etwa «Café Tortoni» oder «La flûte désenchantée», wo Bacalov sogar den nötigen Humor aufbringt, Mozarts Zauberflöte mit delikater Instrumentierung zu entzaubern. Zum Großteil aber wird fast 35 Minuten lang ein lyrisch-elegischer, beseelter musikalischer Reigen präsentiert, den man nicht anders als traumhaft bezeichnen kann. Wer einen gefühlvollen und romantischen Soundtrack der Extraklasse sucht, kann hier wahrlich fündig werden. Mich hat diese CD, die ja bereits im letzten Herbst in Frankreich erschien, so begeistert wie wenig andere im letzten Jahr. Ich kann sie deshalb nur rundum weiterempfehlen, auch wenn der Rest der insgesamt fast 60minütigen CD etwas wahllos Klassikteile von Schubert, Bellin und Schumann enthält, die leider zwischen die Bacalov-Tracks eingestreut wurden, so daß man desöfteren zum «Springen» gezwungen wird.

Vielleicht noch ein kleiner Hinweis: In Track 19 «L’amour en fuite» zitiert Bacalov, ohne dass es auf der CD angegeben wäre, den Beginn des langsamen Satzes von Robert Schumanns Klavierquartett in Es-Dur, um dieses Thema dann in sein eigenes italienisches Idiom umzumünzen und daraus schließlich wieder das Hauptthema seines Scores abzuleiten. Wie er das macht, kann ich nur als Könnerschaft auf höchstem Niveau bezeichnen.

Sehr gelungen ist auch die Präsentation der CD. Im aufklappbaren Booklet sind Texte sowohl von der Regisseurin Diane Kurys (mit der Bacalov schon 1982 bei COUP DE FOUDRE zusammengearbeitet hat) als auch von Bacalov selbst sowie sehr ansprechende Fotos enthalten, die neugierig machen auf einen Film, der in Deutschland kaum mehr den Weg in die Kinos finden wird.

Stefan  |  2000

LES ENFANTS DU SIÈCLE

Luis Bacalov

Decca

58:08 | 20 Tracks