Review aus The Film Music Journal No. 25, 2001
Wie wählt man sich seine Kinobesuche aus? Zum Großteil aufgrund von Ankündigungen. Am x.y.zz wird Film A anlaufen. Pressemitteilungen und Webdiskussionen haben bereits vorab informiert, so daß man weiß, wer mitspielt, worum es geht und ob man sich eher auf geistig-sinnliche Höhenflüge oder unterhaltsamen Zeitvertreib einzustellen hat. Daneben kämpfen die Programmkinos, nicht selten aber mit schöneren Filmen bestückt, um Zuschauer. Dorthin geht man aufgrund von Vorkenntnissen («endlich: mein Lieblingsfilm») oder persönlichen Tipps. Zu den faszinierendsten Erscheinungen des Cineasmus gehören Retrospektiven, wo man binnen kurzer Zeit einen Ausschnitt des Gesamtwerks auf sich wirken läßt und so ein Gespür für den Personalstil bekommt; was in vielen Rückschlüsse auf den musikalischen Geschmack zuläßt.
So geschah es kürzlich mit dem hierzulande kaum bekannten Filmemacher Jacques Demy, in den sechziger bis achtziger Jahren Regisseur einer Anzahl bemerkenswerter, sehr persönlicher Werke. Und die fünf besuchten Filmvorführungen markieren für mich den unzweifelhaften Höhepunkt des Kinojahres 2000. Demy liebt farbenprächtige Spektakel, deren Geschichten indessen oft tragisch enden. In den besten Werken singen die Figuren ihre Dialoge, Alltagsdialoge in Alltagskulissen. Zunächst statische, unbeholfen wirkende Szeneneingänge verwandeln sich in virtuos aufgezäumte Choreographien. Alles gerät in Bewegung, singt und tanzt sich aus; die Melodien aber streifen ihre langen Schatten nicht ab, umranken die bunte Welt mit Trauerflor und erheben den stillen Kontrast zur Projektionsfläche für eigene (Verlust-)Ängste und Tagträume.
Ein Höhepunkt im Schaffen Demys ist der 1968 gedrehte Film LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT. Ein kleiner französischer Ort wird von fahrenden Künstlern heimgesucht, die am Sonntag eine große Show auf dem Marktplatz zelebrieren wollen. Bis dahin lernen wir Bewohner der Stadt kennen, die alle in irgendeiner Weise miteinander bekannt sind oder werden. Und plötzlich – nein, das gibt’s doch nicht – lacht, singt und tanzt Gene Kelly in alter Frische durch die Straßen, Jahre nach dem Ausverkauf des Hollywood-Musicals. Man bekommt ihn nur wenige Male in Kurzauftritten zu sehen; diese Momente aber sind von so magischer Anziehungskraft, sind Elemente der großen Hollywood-Traumwelt inmitten einer außergewöhnlichen Demy-Fantasie.
Die Handlung setzt sich also über eine Art Nummernfolge von Gesängen zusammen. Für deren Musikanteil ist Michel Legrand zuständig. Ihm gelingt es auf gleichermaßen fesselnde Weise, die Alltagssorgen der Protagonistinnen einzufangen wie ihre künstlerischen Exhibitionismen und kapriziösen Ausbrüche. Als skurrile Kreuzung barocker und romantischer Gesten komponiert er ein Mini-Klavierkonzert, ist ansonsten vor allem damit beschäftigt, sein vielfach gesungenes Hauptthema in immer neuen Verkleidungen anzutreiben oder zu zähmen. Die neue Doppel-CD versammelt nicht nur den Musikanteil des Films, sondern auch noch diverse Suiten und Arrangements desselben Materials; teils vokal, teils instrumental. Vielleicht ein bißchen zuviel des hier wirklich Guten; im Unterschied zu anderen CDs wird man an manchen Tagen nur den Score-Bezirk aufsuchen, dann wieder nur die Songs oder die spritzigen Tanzmusikstücke, zu denen man die angerosteten Knochen ja auch mal wieder antreiben kann. Eine Multifunktionsedition also. Den zugehörigen Film gibt’s in Frankreich als DVD!
Matthias | 2001
LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT
Michel Legrand
Philips
122:28 | 32 Tracks