Review aus The Film Music Journal No. 25, 2001
Das sehr rührige französische Universal-Label mit der Equipe um den Produzenten und Federführer Stéphane Lerouge erweist sich als wahrer Schatzgräber beim Auffinden filmmusikalischer Preziosen des französischen Kinos der 60er und 70er Jahre. Neben CDs von Philippe Sarde (siehe TESS) und Éric Demarsan erschien im letzten Herbst aus Anlaß seines 75. Geburtstags auch eine Anthologie-CD mit 11 originalen Soundtrack-Suiten von Antoine Duhamel.
Unter Mainstream-Filmusikfans hatte Duhamel noch nie irgendeinen Komponisten-Kultstatus innegehabt und wird ihn wohl auch nie besitzen: Zu kühl, zu intellektuell, zu spröde sind oft seine Arbeiten, und ihre feinen Nuancen offenbaren sich meist erst bei konzentriertem, mehrfachem Hören. Duhamels Kompositionen verlangen dem an gewohnte traditionelle Schemata gewohnten Hörer schon einiges ab und sind oft sehr deutlich vom anti-romantischen Gestus eines Strawinsky oder Bartók beeinflußt. Duhamel, der wie Richard Rodney Bennett in England sich neben seinen Filmarbeiten auch als ernster Konzertkomponist betätigte (mehrere Opern und Sinfonien finden sich in seinem Werkverzeichnis), studierte unter anderem bei René Leibowitz und Olivier Messiaen, deren experimentelle Arbeiten ihn entscheidend prägten.
Mit solcherart Wissen über Duhamel ausgestattet, kann das Hören dieses Samplers jedoch zu einigen 22 Überraschungen führen. Zum Beispiel bringen uns die drei Ausschnitte aus LE VOLEUR DE TIBIDABO (1965) einen leichtfüßigen, durchaus schwebend eleganten und reizvoll melodischen Duhamel zu Gehör, den man so sonst kaum kennt. Eine Musik von ansteckender Fröhlichkeit, die immer wieder von gelegentlich einsetzenden Jazz-Rhythmen konterkariert wird. Besonders schön, das von Anna Karina gesungene «La vie est magnifique»: So unbeschwert konnte man wirklich nur in den 60ern komponieren. Weitere erstaunliche Ergebnisse fördert der bisher unveröffentlichte «Valse de la fatalité» aus Riccardo Fredas ROGER-LA-HONTE von 1966 zu Tage sowie das äußerst amüsante jazzbetonte «Théme de drogue» zum Abenteuerkrimi CINQ GARS POURS SINGAPUR (1966), für das Duhamel selbst mit einem Strohhalm in ein Glas Wasser blies, um das dementsprechende Sprudeln und Brodeln des Wassers zu erzeugen, sozusagen eine lautmalerische Wiedergabe des Drogengemischs.
Viele der jetzt auf diesem Sampler verewigten Tracks aus den 60er Jahren erklingen entweder zum allerersten Mal oder waren früher nur als rare EPs (mit vier oder fünf Stücken) zu bekommen. Es ist daher eine große Freude, solche Fundstücke hier endlich mal in toller Tonqualität vereint zu haben. Wer den typischen Duhamel-Stil auf allerhöchster Höhe genießen will, der sollte mit den Suiten zu PIERROT LE FOU (1965), WEEK-END (1967), DOMICILE CONJUGAL (1970) und RIDICULE (1996), von der es auch eine komplette CD gibt, einsteigen. Bei PIERROT LE FOU und WEEK-END handelt es sich eh um zwei filmische Avantgarde-Klassiker von Jean-Luc Godard.
Zweimal eine Reise ans Ende der Nacht gemäß Céline, die bei PIERROT (mit Jean-Paul Belmondo und Anna Karina) zu einer atemberaubend romantischen Reise in den Süden Frankreichs wird, von Duhamel mit einer schmerzlichen Streicherelegie à la Mahler unterstützt, bei WEEK-END zu einer wahrlich düsteren Autofahrt in die Apokalypse. Aus Godards radikaler Kritik an der modernen Konsumgesellschaft kommt hier der von einem dunkel timbrierten Streicherfeld nebst Akkordeon umgebene schwermütige Walzer «Alice» zu Gehör, während die restliche Musik des Films auf einer weiteren Duhamel-CD von Universal Anfang Mai in Frankreich erscheinen soll.
Duhamel liebt die dunklen Klangfarben, die tieftraurigen Streicherketten, die durchaus stellenweise atonale Züge annehmen (wie in den Suiten aus MÉDITERRANÉE, 1963, oder LE CORPSE DE DIANE, 1969), andererseits aber auch die Groteskerien eines Strawinsky, die er mit wilden Streicherpizzicati und launischen Pointierungen etwa in François Truffauts Antoine Doinel-Film DOMICILE CONJUGAL zelebriert. Sein Meisterwerk aus den 90ern ist die intellektuell geschärfte Musik zum Kostümfilm RIDICULE von Patrice Leconte, von der auf dieser CD drei Auszüge enthalten sind. Interessenten sei ohnehin die komplette CD empfohlen, die ein kraftvolles und faszinierendes Stilgemisch aus barocken Elementen und Instrumenten sowie einer harmonisch modernen, rhythmisch feinziselierten Schreibweise darstellt.
Das schön ausgestattete Booklet (im Pappschuber versteckt und dort herauszuziehen) enthält Kommentare von Duhamel zu jedem Score sowohl in Französisch wie in Englisch. Insgesamt daher eine feine Sache, die man jedem, der abseits des Mainstreams sinfonisches Neuland betreten will, nur anraten kann.
Stefan | 2001
LA CINÉMA D’ANTOINE DUHAMEL
Antoine Duhamel
Universal France
67:29 | 22 Tracks