Der trockene Alkoholiker Doyle Gipson und der erfolgreiche Anwalt Gavin Banek geraten durch einen Autounfall aneinander. Beide haben es eilig und müssen zu einem Gerichtstermin. Da Banek seine Versicherungskarte nicht findet, stellt er Gipson großzügig einen Blankoscheck aus. Gipson lehnt dies ab; er will die Angelegenheit ordentlich und nach geltendem Gesetz regeln.
Die Protagonisten werden sich nicht einig und Anwalt Banek fährt – angetrieben durch Zeitdruck – davon, verliert aber auf der Straße eine Akte, die von Gipson natürlich gefunden wird. Da die Akte für Baneks Karriere entscheidend ist, beginnt jetzt ein gefährliches Katz’ und Maus Spiel. Der Alkoholiker will für das überhebliche Verhalten Vergeltung; der Anwalt rächt sich ebenfalls, weil er seine Akte nicht sofort wiederbekommt. So reden beide aneinander vorbei und treffen immer die falschen Entscheidungen. Changing Lanes ist ein Film über Moral, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit.
Die Handlung ist im Prinzip aus dem normalen Leben gegriffen. Eine kleine, unscheinbare Entscheidung die eine Kette negativer Ereignisse nach sich zieht und dann zum Entsetzen führt. Physiker sprechen von Entropie. Die Entropie wächst, wenn ein System in einen ungeordneten Zustand gerät. Sowohl Anwalt als auch Alkoholiker befinden sich in einem geordneten Zustand: Der Anwalt ist erfolgreich, der Trinker trocken. Sie werden Unfallgegner, können aber durch ihre unterschiedlichen Biografien nichts miteinander anfangen. Somit bilden die beschriebenen Faktoren den Ausgangspunkt für die im Handlungsverlauf dramatisch ansteigende Entropie. Das Leben der beiden Männer versinkt für einige Tage im Chaos; der Zuschauer erlebt ein schaurig-schönes Durcheinander und findet womöglich Parallelen zu seinem eigenen Leben.
Ich halte mich deswegen an diesem physikalischen Gesichtspunkt auf, weil dieser als Grundlage zur Besprechung von David Arnolds kompositorischen Beitrag dienen soll. Eigentlich ist die Musik keine Musik; es ist eine Anti-Musik! Eine zauberhafte Klangcollage, die daherkommt, als habe man die Vorgänge im Mikrokosmos mit einem Mikrofon gefangen. Schaut man den Film an drängt sich das Gefühl auf die Klänge sind der akustische Ausdruck der wachsenden Entropie. Arnold begleitet den Alltag der beiden Figuren; die Klänge – genau wie das Leben – schreiten gnadenlos voran. Einen Schlichter, der unterbricht und vermittelt gibt es nur im Spiel, nicht aber im Leben. Den natürlichen Gesetzmäßigkeiten ist es gleichgültig, ob die beiden Individuen ihr Problem lösen, oder sterben. Genau diesen Terminus hat Arnold verdächtig gut umgesetzt.
Die Komposition hinterlässt einen geschlossenen und autonomen Eindruck. Sie lässt sich nicht beeindrucken von den Sehnsüchten des Anwalts und von der Ordnungsliebe des Alkoholikers. Die Klänge entwickeln ein Eigenleben; sie hinterlassen den Nachgeschmack eines psychotronischen Experiments. Urban und steril, vibrierend und antreibend. Künstliche Blutflußgeräusche und kalte Herzschläge aus dem Synthesizer suggerieren Anonymität, Angst, Panik. Die Musik schleicht durch den Film und bleibt den Figuren auf den Fersen.
In den letzten zehn Minuten der knapp vierzig minütigen Partitur lichtet sich die Stimmung. Traurige Entspannung vermischen sich mit einem Gefühl des Erlöst Seins; die (beinahe) Katastrophe bleibt als Mahnung präsent.
Der Film findet ein gutes Ende: Banek und Gipson lernen dazu und konnten die wirren Geschehnisse als Chance nutzen, um Ihr Leben zu bereichern.
In der Realität erliegt der Einzelne oft dem Chaos, verdrängt oder übersieht brauchbare Wahrheiten und wird zeit seines Lebens in Entropie gefangen gehalten, ohne je zu erfahren, was genau ihn ins Verderben gestürzt hat. Wobei das kollektive Leben insgesamt voranschreitet und sich weiterentwickelt.
Mir kommt des öfteren Gänsehaut, wenn ich mich auf Arnolds CHANGING LANES einlasse. Die meisten Hörer werden vermutlich keinen Gefallen an der Musik finden. Um diese zu mögen, ist es unabdingbar den Film gesehen zu haben. Toll umgesetzte Geschichte mit einer hochinteressanten musikalischen Ausstattung!
Oliver, 16.7.2019
CHANGING LANES
David Arnold
Varèse Sarabande
39:48 Min.
26 Tracks