American History X

Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000

Das Film Music Journal bemüht sich darum, die wichtigen Neu- und Wiederauflagen (seien wir ehrlich: vor allem des englischsprachigen Sektors) alsbald zu besprechen. Indessen kommt es vor, daß man Jahre später feststellen muß, über irgendeinen Zweisterne-Score eine Dreiviertelkolumne vollgeschrieben zu haben, während gleichzeitig ein anderes, weitaus besseres Werk als Dauergast im heimischen Player kreiste, ohne doch mit einer Sterbenssilbe erwähnt worden zu sein. AMERICAN HISTORY X ist so ein Fall. Der zugehörige Film mit Edward Norton entfachte vor zwei Jahren ziemlichen Wirbel im Feuilleton, das sich mit Vorwürfen wie «Ästhetik der Gewalt» etc. aufplusterte. Das wäre heute nicht der Rede wert, stammte die Musik von Howard Shore oder Elliot Goldenthal —die Rezension wäre längst gedruckt. Doch Anne Dudley? Ihr Name läßt die entsprechenden Automatismen nicht einschnappen. Warum ist das so? Zur Antwort folgende Stichwörter: Eine Frau; schreibt seltsam-uneinheitliche Musik für merkwürdige Filme; hat mal den Oscar bekommen, sonst kaum für Furore gesorgt; man weiß nicht, was auf einen zukommt, wenn man ihre CDs kauft; Gefahr des Popmusikeinflusses nicht auszuschließen.

Unter den Werken Anne Dudleys hat bislang überhaupt nur eines zu begeistern vermocht, dafür um so nachhaltiger: AMERICAN HISTORY X. Um das zu erklären, sei eine weitere Klammer geöffnet: Vor einigen Monaten brachte Philippe mir Craig Armstrongs BONE COLLECTOR nahe: düstere, dahingleitende Musik, die einen nicht aus den Fängen läßt. AMERICAN HISTORY X ist diesbezüglich eng verwandt. In beiden Scores geht es, so scheint es jedenfalls, um die Relation von Raum und Zeit. Durch die schier unbegrenzte Ausdehnung von Klangflächen entsteht der Eindruck, daß alle Bewegungen stark verlangsamt sind, daß kein Ziel vor Augen steht. Das Hauptthema ist dem aus der römischen Liturgie entlehnten «Kyrie eleison» unterlegt und kurzzeitig einem Chor anvertraut, wie man überhaupt die These vertreten könnte, daß AMERICAN HISTORY X verweltlichte Ex-Kirchenmusik ist.

Wie im BONE COLLECTOR gerät die träge Masse nach und nach in Bewegung, findet auch Dudley Mittelstimmen, die gegen den Hauptstrang zuerst nicht viel ausrichten können, allmählich aber doch die Kräfte binden und für eine integrale Beschleunigung sorgen. Der Höhepunkt des Albums befindet sich in der Mitte: «Raiders», das ist nicht länger der Ausdruck passiven Dahintreibens, sondern musikalisch skandiertes Aufbegehren, aktives Gestalten, Überwinden von Hindernissen, eine Entladung angestauter Energie. Von da an ist der Score nicht mehr derselbe, obwohl die älteren Motive immer wiederkehren.

AMERICAN HISTORY X, eine Partitur für großes Orchester mit Chorzusätzen, weitet sich dank seines kirchenhaften Klangambientes ins Unermeßliche. Eine archaische, nachtschwarze Aura umflort diese Musik, ein geheimnisvoller Reiz, der sich mit den Jahren nicht verbraucht hat. Im Gegenteil kann ich sagen: selten war eine hohe Bewertung so wenig vom ersten Eindruck befeuert. AMERICAN HISTORY X gehört zu den Meisterwerken der späten Neunziger.

Matthias  |  2000

AMERICAN HISTORY X

Anne Dudley

Angel

48:17 | 17 Tracks