Alice et Martin

Review aus The Film Music Journal No. 19, 1999

Früher sprach man vom «Thoelke-Englisch», wenn der Showmaster der Kultsendung «Der große Preis» wieder mal hemmungslos einen Studiogast aus Übersee mit phonetischem Hinterwäldlerenglisch überschüttete, daß es den Rest der Nation im Ledersessel erschauern ließ. Speziell der Englischlehrer war am nächsten Tag immer ganz zerknirscht. Wie mag dieses Phänomen aber in anderen Ländern genannt werden, fragt man sich, als Yann Tiersen mit allen ernsten Absichten den einzigen Song dieser CD intoniert, «La Rupture» geheißen, und noch jenseits der Esperanto-Luke ins Freie taumelnd.

Den sonstigen, introvertierten Musikanteil des neuen Juliette-Binoche-Dramoletts ALICE ET MARTIN betreute Philippe Sarde ingeniös. Sein Hauptthema, Violinen und Flöten anvertraut, besitzt mit seinen melodisch an Johann Sebastian Bachs langsame Suitensätze angelehnten Wendungen eine humane Würde, die sofort für sich einnimmt. Meist haben die Cues etwas Tänzerisches, wiewohl einem bei diesen manchmal aggressiven, aber gar nicht lauten Tändeleien nicht recht warm wird. Von einsamer Schönheit kündet das Akkordeon in «Tango Illusion», probiert es darin auch mal mit einem konventionellen Tangorhythmus, findet jedoch im anders pulsierenden Saxophon einen Widersacher, gegen den es sich nur vorübergehend durchsetzt. Zwei Welten prallen hier aufeinander. Die Illusion besteht darin, diese beiden Welten wirklich verschmelzen zu lassen.

Abgesehen davon ging es Sarde, wie er im Booklet preisgibt, darum, die musikalische Sprache des 18. Jahrhunderts (hier: Bach) mit modernen Ausdrucksgesten (hier: Bartók, Strawinsky) zu konfrontieren und so die tiefen Risse in Martins Psyche deutlich werden zu lassen.

ALICE ET MARTIN ist kein Actionscore, sondern ein neuerliches, intimes Kammerspiel ohne Worte. Sarde, ein Anwalt der Schönheit, hat ohne jede Schminke, ohne Allüren den Ton auf den Punkt getroffen. Die hier vorliegende Partitur läßt an Substanz, Ehrlichkeit und Sensibilität die oscarnominierten und -prämierten Partituren des Frühjahrs weit, sehr weit hinter sich. Wann endlich wird man ihn gebührend zu würdigen wissen? Auf dem europäischen Festland findet sich momentan kein anderer mir bekannter Filmkomponist, der konsequent auf einem derart hohen Niveau schreibt wie Philippe Sarde.

Matthias  |  1999

ALICE ET MARTIN

Philippe Sarde

Travelling

50:21 | 12 Tracks