Welch ein Ereignis die erste Filmmusik des damals fast schon 70-jährigen Ralph Vaughan Williams gewesen sein muss, zeigt sich beim Vorspann von 49TH PARALLEL (1941), wo sein Name gleich nach den Hauptdarstellern und noch vor dem Filmtitel präsentiert wird. Erschaffen vom profilierten Gespann Michael Powell und Emeric Pressburger (THE RED SHOES, BLACK NARCISSUS, A MATTER OF LIFE & DEATH etc.), war der Film als Weckruf an die noch neutralen USA gedacht, sich am Kampf gegen die Achsenmächte zu beteiligen. Erzählt wird die Geschichte von sechs überlebenden Besatzungsmitgliedern eines deutschen, in der Hudson-Bay versenkten U-Bootes. Sie wollen sich unter Führung des skrupellosen Leutnant Hirth (Eric Portman) zur auf dem 49. Breitengrad liegenden Grenze zwischen Kanada und der USA durchschlagen und hinterlassen dabei eine Spur der Gewalt und Vernichtung. Während ein paar dieser Nazis individuelle Ideologien vertreten, dienen die Hauptfiguren der Gegenseite (Laurence Olivier, Anton Walbrook, Leslie Howard, Raymond Massey) als Stellvertreter für alle Nationen, die bereit sind, für den Erhalt von Demokratie, Toleranz und Kulturgut zu kämpfen. Und auch wenn diese Botschaft mehr oder weniger mit dem Holzhammer verabreicht wird, bleibt sie mehr als aktuell.
Dirigent Martin Yates, der sich 2017 schon um die Veröffentlichung von Vaughan Williams› komplettem SCOTT OF THE ANTARCTIC verdient machte, hat nun auch 49TH PARALLEL rekonstruiert und mit dem BBC Concert Orchestra eingespielt. Da ein Grossteil des nun auf stattliche 81 Minuten angewachsenen Scores nicht benutzt wurde, gibt es viel noch nie Gehörtes zu entdecken. Und der Klang macht was her, da die Musik – wie von Dutton gewohnt – auf SA-CD gepresst wurde.
Das hymnische Hauptthema (später vom Komponisten zum Chorstück THE NEW COMMONWEALTH verarbeitet) gehört schon längst zu den Klassikern der britischen Filmmusik, ist aber ausser im Vor- und Nachspann nur im rund 16-minütigen «Prologue panorama» noch kurzzeitig zu vernehmen. Ein mindestens ebenso wichtiger Bestandteil ist das bedrohliche Stakkato-Motiv für die Nazis, das Vaughan Williams für das Scherzo seines zweiten Streichquartetts wiederverwendete. Für die Deutschen bedient sich der Komponist auch beim Choral «Ein feste Burg», der aber nicht immer leicht erkennbar verarbeitet wird. Auch anderes Liedgut wie die kanadische Nationalhymne «O Canada» und das französiche «Alouette» finden Eingang in die Musik. Aktuell gesungen wird jedoch nur (von Jessica Millson) in «Anna’s Volkslied», wo es zur Begegnung der Flüchtenden mit der jungen Anna (Glynis Johns) kommt. Das einer Hutterer-Gemeinde angehörende Mädchen ist die einzige substanzielle Frauenfigur des Films.
Vor allem die Hutterer-Sequenz bietet Vaughan Williams auch die Gelegenheit, seine Stärken im pastoralen und volkstümlichen Bereich auszuspielen. Diese Ausdrucksformen sind ebenso charakteristisch für den Score wie unterschiedliche, teilweise ruppigere Landschaftsbeschreibungen. Gegen Ende hin gesellt sich dann auch noch Urbanes dazu wie «Valse Winnipeg» und «Dance music: in the restaurant». Ethnisch wird es in «Banff: Indian Days», wo Trommeln und Holzbläser den Takt angeben. In «The Nazis with the British writer» kommt noch einmal Idylle auf, und auf eines der Themen griff Vaughan Williams für sein 1947 entstandenes Klavierstück THE LAKE IN THE MOUNTAINS zurück.
Die Musik zu 49TH PARALLEL mag manchmal etwas episodenhaft anmuten und einen klaren Spannungsbogen vermissen lassen, aber ihre Qualität an sich ist von allerhöchster Güte und durchgehend ein Genuss, den sich zumindest Liebhaber klassischer orchestraler Filmmusik nicht entgehen lassen sollten. Für Vaughan Williams war es der ebenso späte wie fulminante Einstieg in ein neues Genre, das er mit immerhin noch zehn weiteren Beiträgen bereichern sollte.
Andi | 24.05.2023
49TH PARALLEL
Ralph Vaughan Williams
Dutton Epoch CDLX7405
81:01 Min. | 23 Tracks