Als im Jahre 1994 Walt Disneys DER KÖNIG DER LÖWEN in den Kinos erschien, hätte wohl niemand mit dem weltweiten Erfolg gerechnet, den dieser Film nach sich ziehen sollte. Während der Produktion wurde THE LION KING (1994) sogar als zweitrangiges Projekt hinter POCAHONTAS (1995) behandelt, das zur selben Zeit produziert wurde. Ein Großteil der Disney-Zeichentrickstudios arbeitete lieber an POCAHONTAS, da sie dachten, dass dieser Film erfolgreicher und prestigeträchtiger sein würde. Dies dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb man Disneys damaligen «Haus und Hof»-Komponisten Alan Menken für POCAHONTAS verpflichtete und eben nicht für THE LION KING.
Ich muss gestehen, dass ich über diesen Umstand sehr froh bin. Alan Menken und seine musikalische Arbeit in allen Ehren – aber wenn er nicht bereits durch POCAHONTAS verplant gewesen wäre, hätten wir wohl niemals Hans Zimmers Magnum Opus bekommen.
Man entschied sich für Hans Zimmer, da dieser mit A WORLD APART (1988) und THE POWER OF ONE (1992) bereits Erfahrung mit in Afrika spielenden Filmen und traditioneller afrikanischer Musik hatte. Dem deutschen Komponisten kam die Arbeit an einem Disney Zeichentrickfilm ausserdem gelegen, da er seine damals 6jährige Tochter endlich mal ganz stolz mit zu einer Filmpremiere nehmen konnte.
Zimmer holte für die Produktion der Musik u.a. Lebo M mit ins Team, mit dem er bereits bei THE POWER OF ONE zusammengearbeitet hatte. Lebo M und der von ihm zusammengestellte Zulu-Chor hatten starken Einfluss auf die afrikanischen Elemente der Filmmusik, dementsprechend enthalten viele Lieder (Hintergrund-)Gesang in Zulu. Somit kommen wir auch beim ersten Track dieser CD an: < «Circle of Life/Nants‘ Ingonyama». Mit den weltweit bekannt gewordenen Worten «Nants‘ Ingonyama Bagithi Baba» beginnt Lebo M sowohl den Film als auch den Soundtrack. Der afrikanische Teil wurde von Lebo M und Hans Zimmer komponiert und geschrieben. Allerdings stammt «Circle of Life» von keinem Geringeren als Elton John. Er hat die entsprechenden Bestseller-Songs zum Soundtrack beigesteuert, indem er nicht nur die ursprünglichen Demo-Versionen sang, sondern die Musik auch komponierte. Die Texte der Songs stammen übrigens von Tim Rice – wie so oft bei Disney Produktionen. Allerdings möchte ich mich mit dieser Rezension allein dem Score von Hans Zimmer widmen, daher spare ich besagte Songs komplett aus.
Mit THE LION KING hat Hans Zimmer nicht nur meinen persönlichen Lieblingsscore komponiert, sondern vermutlich sein bisher größtes und wichtigstes Werk seiner Musikkarriere: Der Track «We Are All Connecte» beginnt mit einer wiegenliedartigen, verträumten Melodie (Simbas Thema), die in anschwellendem Orchester und leichtem Choreinsatz mündet und eventuell damit die majestätische Zukunft Simbas andeutet. Aber im Mittelteil des Stücks wird erst einmal für eine kindliche, fröhlich-leichte Melodie Platz gemacht, die einen an Simbas noch junges und verspieltes Alter erinnert. Auf einmal baut sich Spannung im Orchester auf und entlädt sich in einem kurzen, stoßartigen Choreinsatz. Dann folgt etwas, das wir alle noch gut in Erinnerung haben dürften: Das atemberaubend schöne Mufasa Thema wird zum ersten Mal vom Orchester gespielt, während Mufasa seinem kleinen Sohn Simba den ewigen Kreis des Lebens erklärt und ihm vor einem bildhaft schönen Sonnenuntergang sagt, dass alles, was das Licht berührt, einmal ihm (Simba) gehören wird.
Wir wechseln die Szenerie und die Musik widmet sich den Hyänen («Hyenas In The Pride Land»), wodurch sich die Stimmung stark verändert. Hans Zimmers Musik transportiert die Eigenschaften der drei Hyänen Shenzi, Banzai und Ed perfekt: gefährlich, intrigant, beobachtend, hinterhältig, aber auch etwas schusselig und stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Diese Stimmung wird in «Elephant Graveyard» fortgeführt. Ein geisterhafter Choreinsatz verkündet nichts Gutes, als Simba und Nala den Elefantenfriedhof betreten. Hans Zimmer macht unmissverständlich klar, dass dies Hyänengebiet ist, in dem er eine walzerartige Melodie folgen lässt, die gut zur misslichen Lage passt, in der sich Simba und seine Gefährtin nun befinden. Man kann die drohende Gefahr förmlich spüren. Der darauffolgende Angriff der Hyänen und die damit verbundene Flucht Simbas wird actionreich vom Orchester begleitet. Erst das Auftreten von Mufasa setzt dem Ganzen ein Ende.
Es folgt für mich das Herzstück des gesamten Scores: «I Was Just Trying To Be Brave». Eine unheilschwangere Musik bereitet auf das folgende Gespräch zwischen Mufasa und seinem Sohn vor. Simba hat sich sinnlos in Gefahr begeben und damit seinem Vater eine riesige Angst eingejagt (ja, auch Könige haben mal Angst). Während Mufasa seinem Sohn die Leichtsinnigkeit aufzeigt, hören wir die Anfänge des Mufasa Themas, vordergründig gespielt auf dem Cello und begleitet vom Chor (00:31). Ab 00:56 folgt das Mufasa Thema in all seiner Pracht und Schönheit. Spätestens ab hier fließen die Tränen beim geneigten Zuhörer. Denn man weiß nur zu gut, dass es nur eine einzige Antwort auf Simbas Frage geben kann, die er seinem Vater stellt („Wir bleiben auch immer zusammen, richtig?“). Vor allem wenn man den Film bereits kennt und einem schmerzlich bewusst wird, dass Mufasa nicht mehr lange an seiner Seite sein wird.
(„Simba, mein Vater hat mir etwas sehr Wichtiges anvertraut. Sieh hoch zu den Sternen, die großen Könige der Vergangenheit sehen von dort auf uns herab. Und wenn du dich einsam fühlst, denk immer daran, dass diese Könige dir den Weg weisen werden. Und ich auch.“). Dies wird von einem weiteren Einsatz des Mufasa Themas begleitet und spätestens hier bleibt vermutlich kein Auge mehr trocken. Dieses Empfinden wird nochmals intensiviert, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass Hans Zimmer seinen eigenen Vater ebenfalls in sehr jungen Jahren verloren hat und seine Trauer darüber nie ganz verarbeiten konnte. Er sagte bereits in mehreren Interviews, dass die Geschichte zum Film THE LION KING aus diesem Grund tiefgreifend und sehr persönlich für ihn wurde. Er habe mit der Musik (sicherlich vor allem mit dem Mufasa Thema) ein Requiem für seinen Vater geschrieben.
Mit dem Track «Stampede» wird man regelrecht aus dieser traurigen Stimmung herausgerissen. Jedoch lässt der unheilvolle Anfang nichts Gutes vermuten. Die stampfenden Rhythmen des Orchesters und der energiegeladene Einsatz des Chors bestimmen nun die musikalische Szenerie. Wir alle dürften dabei die atemberaubende Schluchtsequenz vor dem inneren Auge haben. Und bei jeder neuen Sichtung des Films fiebert man mit und wünscht sich sehnsüchtig, dass Mufasa es vielleicht dieses Mal schafft. Aber weder Scar noch Zimmers Musik kennen Erbarmen und so werden wir mit einem letzten schicksalhaften Aufheulen des Chors und einem in die Tiefe stürzenden Mufasa zurückgelassen („Lang lebe der König!“).
«Mufasa Dies»: („Steh auf, Papa. Du musst aufstehen. Papa, lass uns nach Hause gehen.“) Mit diesen Worten rüttelt der kleine, hilflose Simba an seinem reglos daliegenden Vater – begleitet von einem wortlosen Chor und dem Orchester. Wenn ab 01:09 das Mufasa Thema in seiner traurigsten Darbietung gespielt wird und ein weinender Simba sich ein letztes Mal an seinen Vater kuschelt, fließen auch bei mir die Tränen. In der zweiten Hälfte des Tracks wird dem Zuhörer keine Pause von dieser emotionalen Achterbahn gegönnt, da Scar auftaucht und Simba mit einer arglistigen Lüge von Zuhause vertreibt.
In «If You Ever Come Back We’ll Kill You» hören wir zu Beginn eine trostlose Melodie, die als Sinnbild für die nun folgende Tragödie und die Verwahrlosung des Königreichs unter Scars Herrschaft verstanden werden kann. Ab 0:55 hören wir die wiegenliedartige Simba Melodie. Nur diesmal ihrer Fröhlichkeit und Leichtfüßigkeit beraubt, da der (zu Unrecht) schuldbeladene Simba in eine ungewisse Zukunft blickt. Beendet wird der Track durch das verrückt-wilde Auftreten von Timon und Pumbaa.
«Kings Of The Past»: Hier hören wir anfangs erneut das Simba Thema. Nun hat es jedoch wieder seine kindliche Schönheit zurückerhalten, auch wenn es etwas gereift ist. Ebenso wie Simba – er ist nun zu einem erwachsenen Löwen herangereift und ihm scheint es gut zu gehen bei Timon und Pumbaa. Allerdings beschäftigt ihn die Vergangenheit noch immer – ab 00:51 hören wir den Anfang der vertrauten Mufasa Melodie. Anschließend wird das Mufasa Thema voller Sehnsucht gespielt – Simba vermisst seinen Vater. Ab 01:50 baut sich im Orchester langsam eine neue Melodie auf: Rafiki, der weise Affe, erkennt, dass Simba noch lebt und bei 02:25 erhalten wir einen ersten musikalischen Vorgeschmack auf die nahende Rückkehr des wahren Königs.
In «Remember Who You Are» wird es noch einmal sehr emotional, denn Rafiki hat Simba gefunden und konfrontiert ihn mit seiner schmerzlichen Vergangenheit. Die Musik bewegt sich problemlos von einer Melodie zur nächsten und begleitet perfekt das Aufeinandertreffen zwischen den beiden. Ab 05:00 stimmen Orchester und Chor langsam die vertraute Mufasa Melodie an und was dann folgt, hat Filmgeschichte geschrieben: Mufasa erscheint seinem Sohn in Form einer geisterhaften Wolkengestalt und erinnert Simba daran, dass er seinen Platz im Ewigen Kreis einnehmen muss („Vergiss niemals, wer Du bist. Du bist mein Sohn. Und der wahre König. Du muss dich wieder daran erinnern.“). Dies wird unterlegt von Zimmers epischster Darbietung des Mufasa Themas – Gänsehaut pur! Musikalisch geht dies nahtlos in Simbas Melodie über, denn er hat nun neue Kraft getankt und weiß was er zu tun hat. Dies spiegelt sich auch in der erbauenden Melodie des afrikanischen Chors zum Ende des Tracks wider.
Sein (im wahrsten Sinne des Wortes) krönendes Finale findet der Score im letzten Track «The Rightful King»: Es beginnt mit der bekannten, trostlosen Melodie, die für all das Leid steht, welches Scar über das geweihte Land gebracht hat. Bei 01:02 wechselt es zu einer herzzerreißenden Version von Mufasas Thema, da mit Simbas Erscheinen kurzzeitig alle dachten, dass Mufasa zurückgekehrt sei. Aber es ist Simba, der seinen Vater in sich trägt und nun Scars falsches Spiel durchschaut. Es kommt zur schicksalhaften Begegnung zwischen den beiden, die Hans Zimmer gekonnt musikalisch unterlegt (Beispiel: 02:11 bis 02:37). Wir hören außerdem immer wieder verschiedene Varianten des Mufasa Themas, da Simba zurückgekommen ist, um, im Namen seines Vaters, für sich und seinen rechtmäßigen Platz einzustehen. Den musikalischen Höhepunkt erreicht der Kampf zwischen Simba und Scar bei 06:50 mit einem Aufheulen des Chors und dem Anschwellen des Orchesters. Wir hören dann die Mufasa Melodie in einer abgewandelten, heroischen Version: Simba kämpft darum, seinen Vater zu rächen und um all jene zu schützen, die er liebt. Genau in diesem Moment nimmt er den Platz seines Vaters ein und wird zum wahren König. Er streckt Scar nieder und überwältigt ihn. Anschließend wird Scar Opfer seiner eigenen Zwietracht, indem nun auch die Hyänen sein falsches Spiel durchschauen und ihn töten.
Bei 08:23 beginnt erneut ruhig und sanft das Mufasa Thema, um sich dann, in all seiner majestätischen Pracht, mit Orchester und Chor zur entfalten. Simba erklimmt den Königsfelsen – der rechtmäßige König ist zurückgekehrt! Einen imposanten Abschluss finden Musik und Film in einer bewegenden «Circle Of Life»-Reprise, begleitet vom afrikanischen Chor.
Marcel Schulz | 23.10.2022
THE LION KING (The Legacy Collection)
Hans Zimmer
Walt Disney Records
CD1: 73:50 (21 Tracks)
CD2: 47:37 (12 Tracks)