Ist es denn möglich im Jahr 2022 so eine schwelgerische, melodische Filmmusik wie LE TEMPS DES SECRETS (2022) zu komponieren? Ja, es ist möglich, wenn der geeignete Komponist auf den ebenfalls geeigneten Film trifft. Der Streifen von Christophe Barratier spielt in Marseille im Jahr 1905 und fusst auf den autobiografischen Geschichten mit gleichem Titel von Schriftsteller und Regisseur Marcel Pagnon. Als der gebürtige Marseiller Rombi also angefragt wurde, ob er die Musik für LE TEMPS DES SECRETS schreiben möge, gab es keinen Grund zum Zögern. Rombi, dessen Arbeiten mit François Ozon ein beachtliches Werk von inzwischen mehr als zehn Filmen aufweisen, hat für Barratier übrigens bereits den feinen LA NOUVELLE GUERRE DES BOUTONS (2011) komponiert.
Eröffnet wird die Musik mit einer rufenden Piccolo-Phrase, ehe das Klavier diese übernimmt, die Harfe einsetzt, das Klavier das Hauptthema spielt und schliesslich das gesamte Orchester schliesslich aufschwingt. Nach rund 1:20 Min. ist ein zweites Motiv zu hören, ehe Klavier und eine Bratsche das zweite Hauptthema erklingen lassen: «Ouverture ‘Valse des Secrets’». Der nachfolgende Track «Les Retrouvailles» wiederholt im Prinzip die Ouvertüre, mit etwas anderer Instrumentierung da und dort. Fast kann man in diesen zwei Tracks die Provence, das Bouches-du-Rhône mit den hügeligen Feldern im Hinterland, die wohlriechenden Garrigues, die Weinberge und die in den Himmel ragenden Felsen erahnen – wer schon dort war, weiss was ich meine.
In den weiteren Stücken spielt Rombi mit seinen Themen, lässt sie mal spielerischer, mal ausführlicher, dann wieder kurz angespielt, auch mysteriös und abenteuerlustig und in Variationen erklingen («Enchantment»). Den vorhergehend erwähnten Piccolo-Ruf findet man vor allem in der ersten Hälfte des Scores immer wieder, zumeist als Einleitung eines Stücks. «Les Temps des Punitions» erscheint traurig und nachdenklich mit seinem getragenen Tempo und den anfangs hinterfragenden Streichern, unterbrochen von kurzen Solo-Einstreuseln der Holzbläser, ehe das Stück an Dramatik und Energie zulegt. Gegen Ende des Scores nehmen die geheimnisvollen, etwas Spannung verheissenden Momente zu («La Grotte du Taoumé», «Le Serpent de Pétugue»), vermehrt finden sich Blechbläser und Schlagwerk ein.
Höhepunkte einer ausgesprochen schönen Filmmusik sind das erwähnte «Ouverture», das frohgelaunte «Le Cœur battant», das wundervoll sentimentale «La Piano d’Isabelle» (später im kurzen «Augustine et Joseph» nochmals im gleichen Stil auftauchend), das 3:12 dauernde «Le Chevalier et la Princesse» mit seinem knappen Ausflug mit Cembaloklängen oder das völlig verspielte, komödiantisch betonte «Retour dans les Collines/Course au Lièvre» und «Final» mit seinem fast melancholischen Beginn, ehe Rombi uns nochmals kurz in gewohnte Gefilde führt und die Musik zu ihrem verdienten, wohlklingenden Abschluss bringt.
Eingespielt wurde LE TEMPS DES SECRETS mit dem L’Orchestre National d’Île-de-France unter der Leitung des Komponisten, der auch selbst am Klavier sitzt. Und irgendwie passt hier alles, auch die nur knapp 43 Minuten Laufzeit der CD sind stimmig. Fast würde man sich mehr Musik wünschen und doch, gerade in dieser Länge ist ein ungestörter und kurzweiliger Hörgenuss garantiert. Bravo Monsieur Rombi, der mit LE TEMPS DES SECRETS bisher eine der angenehmsten Überraschungen des Filmmusikjahres 2022 abgeliefert hat, aufgelegt beim liebens- und unterstützungswürdigen französischen Label Music Box Records!
Phil | 07.06.2022
LE TEMPS DES SCRETS
Philippe Rombi
Music Box Records
43:00 | 21 Tracks