Nahaufnahme: The Journey of Natty Gann

von Phil Blumenthal

Einleitung

JOURNEY OF NATTY GANN (1985) ist in vielerlei Hinsicht speziell. Einerseits ist es mitunter das erste Mal, dass eine weibliche Darstellerin in einem Walt Disney Film den Lead hat. Andererseits gab es filmmusikalischerseits für uns die nicht unbekannte Situation, dass ein Score herausgeworfen und ein anderer Komponist engagiert wurde. Darauf gehe ich später ein. Geschrieben wurde das Drehbuch von Jeanne Rosenberg, die 1979 mit THE BLACK STALLION verfasste und 1991 eine weitere Disney Verfilmung, WHITE FANG, schreiben sollte. Bei NATTY GANN erhielt sie ausserdem einen Associate Producer Titel. Regie führte Jeremy Kagan, der zuvor THE BIG FIX (1978) und den unglücklichen (und unnötigen) THE STING II (1983) inszenierte. In einem aufwändigen Auswahlverfahren wurde für die Rolle der Natty Gann Meredith Salenger ausgesucht, die eine mehr als überzeugende Leistung lieferte. Optisch war Salenger ein Gewinn für den Film, aber auch körperlich liess sie es sich nicht nehmen einige der Stunts selbst auszuführen. In einer Nebenrolle ist John Cusack zu sehen, der im selben Jahr im Sleeperhit von Rob Reiner, THE SURE THING (1985), mit Daphne Zuniga spielte. Cusack spielt Harry mit Hut und Lederjacke und sieht, ob zufällig oder nicht, wie eine Jungfassung von Indiana Jones aus. In der Rolle von Harrys Vater, Sol, ist Ray Wise zu sehen, der später unter anderem in David Lynchs Kultserie TWIN PEAKS (1990 – 1991) spielte und 1987 in Paul Verhoevens ROBOCOP zu sehen war. In kleineren Rollen sind Scatman Crothers in seinem letzten Filmauftritt, er starb 1986, und Verna Bloom zu sehen. Der absolute Showstealer ist aber der Wolfshund, eine Mischung aus Wolf und Malamute. Im wirklichen Leben hiess er Jed und hatte Auftritte in THE THING (1982) und später Randal Kleisers WHITE FANG. Dick Bush (THE PHILADELPHIA EXPERIMENT, 1984; SORCERER, 1977) sorgte für die teils atemberaubenden Aufnahmen. Gedreht wurde in Chicago und für die Aussenaufnahmen im kanadischen British Columbia, der Tatsache geschuldet, dass die beiden verwendeten Dampflokomotiven dort stationiert sind.

Inhalt

Natty Gann lebt im Chicago der Depressionsjahre. Ihr verwitweter Vater, Sol, ist wie so viele arbeitslos und Natty schlägt sich, wortwörtlich, durchs Leben. Als Sol ein Angebot als Holzfäller erhält, muss er, ohne sich von Natty verabschieden zu können, sofort in den Bus steigen. Er hinterlässt bei der Besitzerin des Hotels eine Notiz und verlangt, dass sie sich um Natty kümmern soll. Natty büchst schliesslich aus und wird in ein Heim gesperrt. Dort hält es sie nicht lange und sie macht sich auf den Weg in den Bundesstaat Washington zu ihrem Vater. Sie rettet einen Wolfshund, der in Hundekämpfen eingesetzt wird und bekommt mit ihm einen ständigen Begleiter und Bewacher zur Seite. Orientierungslos wandert die beiden umher und begegnen auf einer Zugfahrt, bei der sie fast zu Tode kommt, Harry. Nachdem sie mit einer Bande einen Stier zu klauen hilft, wird sie verhaftet und eingesperrt, schafft es aber auch dort mit ihrem Wolf zu entkommen. Wieder «entert» sie einen Zug und begegnet später in einem Hüttendorf an der Gleisstrecke wieder Harry. Unterdessen macht sich Sol auf, er hat erfahren, Natty sei bei einem Zugsunfall zu Tode gekommen, um die Unglücksstelle zu begehen. Traurig und desillusioniert kehrt er zu seiner Holzfällerstätte zurück und fordert für sich den gefährlichsten Job, bei dem eben ein Mann zu Tode gekommen ist. Harry und Natty sind unterdessen an der Westküste angekommen, wo Harry ein Jobangebot für San Francisco erhält – so trennen sich ihre Wege zum letzten Mal. Natty kommt im Holzfällerdorf an, findet aber ihren Vater nicht. Der Wolf vernimmt die Rufe aus dem Wald und Natty lässt ihn schliesslich gehen. Eine der Sekträterinnen an Sols Arbeitsort findet heraus, wo er sich aufhält. Fast verpassen sich Natty und ihr Vater wieder, doch schlussendlich kommt es endlich zur Vereinigung der beiden. Happy End.

Film und Musik(en)

THE JOURNEY OF NATTY GANN ist temporeich und schnörkellos verfilmt. Die Story hält sich nie lange an einem Ort auf. So unaufhaltsam wie Natty auf der Suche nach ihrem Vater durch die Lande streift und die Dampfloks ihren Weg durch die Landschaft bahnen, ist auch der Film umgesetzt. Die 104 Minuten vergehen wie im Flug, fast hätte man sich hie und da ein Minütchen mehr gewünscht. Selbst Cusack bleibt bloss eine Randfigur und die anbahnende Romanze wird beim Abschied nur mit einem Kuss belegt. Tiefschürfende Charakterstudien sollte man hier keine erwarten, eigentlich alle Nebencharaktere haben eine nie länger erklärte Funktion und verschwinden wieder so schnell sie auf der Bildfläche aufgetaucht sind. Doch die Sympathien seitens des Zusehers werden eh auf Natty und ihren Wolf fokussiert. Wenn der Film, schliesslich ist THE JOURNEY OF NATTY GANN ein Disney Picture, zum unausweichlichen Happy End führt, ist auch der Zuseher glücklich. Trotz relativ grossem Marketingaufwand und recht guten Kritiken blieb der Film an den Kinokassen weit unter den Erwartungen. Erst mit Video- und (seltenen) TV-Ausstrahlungen gewann NATTY GANN schliesslich sein Publikum. Dennoch ist der Film gerade in unseren Breitengraden kein wirklicher Dauerbrenner auf den heimischen Geräten geworden (derzeit kann man sich den Film bei Disney+ angucken). Es bleibt ein eher kleiner, aber knuffig kurzweiliger und warmherziger Streifen – da sehenswert und zwei grosse Namen mit der Filmmusik verbunden sind, ist THE JOURNEY OF NATTY GANN wie gemacht für die «Nahaufnahme».

Als Komponist wurde Elmer Bernstein engagiert, ein Komponist also, für den Reisen durch wilde amerikanische Landschaften alles andere als unbekannt sind und ihn teils zur filmmusikalischen Höchstform aufkommen liessen. Ausserdem hat er mit TO KILL A MOCKINGBIRD (1962) bereits fast sowas wie «Kindermemoiren» untermalt. Nach eigener Darstellung habe er NATTY GANN eigentlich drei Mal gescort, die Meinungen gingen also bei den Musikaufnahmen auseinander. Glücklicherweise hat Varèse Sarabande in einer damals Aufsehen erregenden Box mit zwei anderen, verworfenen Bernstein Scores (GANGS OF NEW YORK, 2002, und THE SCARLET LETTER, 1995) eine CD mit 60 Minuten Laufzeit plus einigen Alternate Cues zusammengestellt. Was schlussendlich genau der Grund war, dass Bernsteins Musik zur Debatte stand, ist heute schwierig zu sagen. Wahrscheinlich hat der Film beim Test Screening, wie so oft, nicht wirklich gut abgeschnitten und so war es die Musik, die man am einfachsten auswechseln konnte.

Bernsteins Musik beginnt mit einem währschaften und charakteristischen, ins Ohr gehenden, noblen und mitreissenden Titelthema, das schliesslich in das romantische Theme als Klavierstück übergeht. Bernstein setzt insgesamt mehr auf Blechbläser und diese gerne in seinem Americana-Modus ein, aber auch sein von ihm heiss geliebtes Ondes Martenot ist oft präsent. Drei jazzig-swingige Tracks befinden sich ebenfalls auf der CD und man kann sich nur ausmalen, dass diese als source music gedient haben müssen. Bernsteins Version ist schwungvoll und abwechslungsreich, eine wirklich schöne Musik, die wie ich meine trotz der temporeichen Cues auch ein wenig mehr an düsteren und traurigen Momenten innehat als Horners Score. Immerhin fand ein kleiner Teil von Bernsteins Musik seinen Weg in den Trailer des Films und nicht zu vergessen jenes Stück, das Nattys Flucht aus dem Hotel beschreibt und eines, in dem Natty von der Mitfahrgelegenheit begrabscht, von ihrem Wolf schliesslich verteidigt wird und fliehen kann.

James Horner hatte Mitte der 1980er Jahre eine der produktivsten Phasen seiner Karriere. Zwischen 1983 und 1986 komponierte Horner für sage und schreibe über 20 Filme die Musik. Sechs Filme untermalte er 1985: Allen voran der grossartige COCOON, aber auch COMMANDO, VOLUNTEERS, HEAVEN HELP US, THE JOURNEY OF NATTY GANN und der TV-Film SURVIVING. Daneben scorte er eine Episode für AMAZING STORIES («Alamo Jobe») und «The Pied Piper of Hamelin» für FAERIE TALE THEATRE.

Die Musik zu NATTY GANN war, eben weil dem Film wenig Erfolg an den Kinokassen beschieden war, zum geplanten Album kam es damals nicht, für Filmmusiksammler lange nur als Bootleg erreichbar. Erst 2009 veröffentlichte Intrada 43 Minuten, die aus Horners Privatarchiv stammten. Ein weiterer Holy Grail in Horners Oeuvre fand somit endlich seinen Weg auf CD. Schade, dass einige Tracks audiotechnisch weniger gut klingen und sich Intrada deshalb entschied, diese an das Ende der CD zu platzieren. Mir wäre eine filmchronologische Reihenfolge lieber gewesen.

James Horners Score (eine Rezi von Basil ist hier zu finden) ist grossteils fröhlich, munter und beschwingt mit einzelnen dramatisch-packenden Spannungsstücken (es grüsst ALIENS, 1985, in «Riding the Rails»). Horner schrieb ein tolles Hauptthema, welches bereits während den Anfangstiteln prominent eingesetzt und zu hören ist. Trompete, Mundharmonika, Horn, Streicher und Klavier beherrschen die Titelmusik. Ein Hauch Americana, wie es Horner immer mal wieder verwendet hat, ist ebenfalls vorhanden und man hört in der Musik bekannte Melodiefetzen, Orchestrationen und eine gewisse Melancholie, die Horner auch in anderen Scores (Basil spricht berechtigterweise THE SPITFIRE GRILL, 1996, an) weiterverwenden würde (Gelungene Variation sind «Early Morning» und «To Seattle»). Viel Gefühl ist in die Sequenz gepackt, in der Sol seine Tochter verlassen muss (das Hauptthema wieder mit Trompete und ein zweites Thema für Blockflöte, Klavier, Harfe, Pizzicatostreicher sind zu hören). In der Szene, in der Harry und Natty in einer verschneiten Landschaft entlangwandern und schliesslich in einer Scheune Schutz suchen, ist ein Gitarren-Duett zu hören, COCOON in Erinnerung rufend und als eine Art Beziehungsmotiv dienend (später taucht dieses bei der Kussszene wieder auf).

Spannend ist der mysteriös klingende Track «The Forest», in dem Horner versucht tierischen Laute und Rufen aus dem Wald mittels Flöten und der Shakuhachi beizuwohnen. Das funktioniert im Film erstaunlich gut und ersetzt dort fast die Toneffekte. In der Szene mit dem Stier, den Natty mit ihrem Wolf in Richtung Laster zu treiben versucht, beschreitet Horner Wege, die an ein Rodeo (nicht umsonst ist hier ein gutes Stück Aaron Copland zu vernehmen) oder einen Wild West Film erinnern. Auf der CD ist dies der Track «Rustling», der mit dynamischen Spannungspassagen endet. Schwungvoll und energiegeladen untermalt Horner die Schauplätze mit den Zügen und die halsbrecherischen Versuche von Natty und Harry in die Güterwagons zu gelangen (zu vernehmen im sich im Tempo und der Energie steigernden «Freight Train» sowie dem tollen «Getting There»). Die Sequenz, in der Natty ihren geliebten Wolf in die Natur entlässt, beschreibt Horner zunächst ominös und schliesslich emotional. Bestückt ist der Track mit Holzbläsersoli, Harfe, Streichern und Hörnern. Schliesslich geht die Musik hier in die Fahrt den Berg hoch beschreibend, über, wo Nattys Vater mit einer Sprengung beschäftigt ist. Dieser Track bildet zusammen mit «Reunion – End Title» einen wunderschönen, erhebenden Abschluss des Films und der Musik.

THE JOURNEY OF NATTY GANN ist zwar nicht Horners Meisterwerk, aber zweifellos ein bezaubernder und charmanter Score zu einem hübschen, unterhaltsamen «gute Laune Film». Beide machen Spass und sollten nicht vergessen gehen.

28.01.2022