The Life Underground

THE LIFE UNDERGROUND (2020) ist ein Kurzfilm des Westschweizer Regisseurs Loïc Hobi. Gänzlich in schwarz-weiss gehalten, erzählt er eine nächtliche Episode aus dem Leben des jungen, suchenden Teenagers Noah. Eines Tages wird Noah von seinem besten Freund Ethan eingeladen, zusammen mit ihm und seiner Bande an einer Expedition in die unheimlichen Tiefen der Metro-Schächte und -Tunnels teilzunehmen. Dort unten angekommen, konfrontiert Ethan seine vier Expeditionsteilnehmerinnen und -teilnehmer mit einer Mutprobe. Um sich zu beweisen, soll jeder von ihnen über die Schienen springen, kurz bevor die Metro vorbeidonnert. Noah sieht in diesem irrsinnigen Unterfangen die einzige Möglichkeit, sich Ethans Anerkennung zu sichern und seinen ersehnten Platz in dessen Umfeld zu finden.

Die Filmmusik für diesen Kurzfilm haben Diego Baldenweg mit Nora Baldenweg & Lionel Baldenweg komponiert. Während die drei Geschwister unter dem Namen Great Garbo Musik für die Bereiche Advertising und Audio Branding schreiben, lassen sie sich für Kompositionen zu TV-Serien und Filmen jeweils mit den vollen Namen aufführen. 2019 erhielt ihre Arbeit für den Schweizer Historienfilm ZWINGLI – DER REFORMATOR viel internationale Aufmerksamkeit, zumal diese Musik ergreifende Soli für Violine, gespielt von Daniel Hope, sakraler, wunderschöner Solo- und Chorgesang und kraftvolle Orchestertutti zu einem beeindruckenden Gesamtwerk verwob. Filmmusikaufnahmen von solchen Ausmassen mit Orchester und Chor sind für Produktionen hier in der Schweiz eher selten. Umso erfreulicher, dass den Baldenweg-Geschwistern nun auch für den Kurzfilm THE LIFE UNDERGROUND die Möglichkeit geboten wurde, wieder ein beachtliches Ensemble zu engagieren.

Während man sich für einen Kurzfilm wie diesen eine Klangcollage aus szenentypischen Hiphop-Beats und Electro-Sounds durchaus hätte vorstellen können, wählten der Regisseur und die Baldenweg-Geschwister einen anderen Weg. Im Stadthaus Winterthur versammelten sie am 4. Februar 2021 eine mehr als 40-köpfige Besetzung des Musikkollegiums Winterthur und die Solisten Ralph Orendain (Violine), Lukas Thöni (Improvisationsspiel Trompete) und Jonas Ruther (Improvisationsspiel Drums). Unter der Leitung von Dirigent Kevin Griffiths trafen Orchestermusik und Jazz aufeinander und so entstand eine bewegende und hypnotische Filmmusik, die das Schwarz-Weiss der Bilder effektvoll aufgreift und dieses mit stellenweise warmen Klängen kontrastiert und emotional überhöht. Der hypnotische Effekt ergibt sich für mich aus dem konstanten Fluss der Musik. Die hier präsentierten 20 Minuten fühlen sich an wie ein unheimliches, sehnsuchtsvolles Vorantasten – keine voranpreschenden, explosiven, hastigen Momente. Spannungsaufbau geschieht subtil – aufziehende Trompeten-Tremoli, markanter werdendes, anschwellendes und abebbendes Percussion-Spiel. Die Schlüsselelemente dieser Filmmusik werden allesamt im ersten Stück, «Désir», präsentiert. Das Klarinetten- und Trompeten-Spiel, begleitet von ruhiger orchestraler «Grundierung», leuchtet die Eigenheiten der Metro-Unterwelt, das Urbane abseits des Tageslichtes schummrig aus. In diese unheimliche, unwirkliche Stimmung hinein mischt sich ab 1:30 ein wunderschönes, warmes Thema, das dem Hörer in der Folge insbesondere in den Stücken «Le train de la vie», «Mourir d’aimer» und dem finalen «Mon prince» als berührende Streicherkomposition wiederbegegnet. Dieses Thema setzt einen starken emotionalen Kontrapunkt zum Rest der Musik und den Jazz-Elementen – insbesondere auf den Streichern vorgetragen, reflektiert es die in der unterirdischen, von Beton und Technik dominierten Metro-Welt entwachsende Sehnsucht nach Geborgenheit. Dieses Thema kriegt man so schnell nicht mehr aus dem Ohr.

Fazit: Mit der Filmmusik zu THE LIFE UNDERGROUND ist Diego Baldenweg mit Nora Baldenweg & Lionel Baldenweg nach ZWINGLI eine weitere, beeindruckende Arbeit für eine Schweizer Produktion gelungen. Die Kombination der Jazz-Ansätze mit dem Orchesterspiel und insbesondere das sehr schöne Streicherthema vermögen nachzuhallen, wenn auch nicht nach einmaligem Hören. Die Musik braucht etwas Zeit, um ihre Wirkung wirklich entfalten zu können. Doch es lohnt sich, selbst für HörerInnen mit wenig Jazz-Affinität wie mich. Das knapp 6-minütige Finale mit den Stücken «The Life Underground» und «Mon prince» werde ich mir sehr gerne wiederholt anhören bzw. meiner Playlist hinzufügen.

17.09.2021

 

THE LIFE UNDERGROUND

Diego Baldenweg mit Nora Baldenweg & Lionel Baldenweg

Great Garbo – Baldenweg Publishing

20:20 Min.
10 Tracks