Review aus The Film Music Journal No. 24, 2000
08/15-Musik ist keine 08/15-Musik —das Paradox gilt es auszuhalten, wie immer man im Einzelnen zu dieser CD stehe. Den Vorwurf, die musikalische Normalnull zu verkörpern, kann man Rolf Wilhelm angesichts dieser akrobatisch zelebrierten Pasticcio-Kunst jedenfalls nicht machen.
08/15 ist das zweite Wilhelm-Album des Essener Labels Cobra Records; ein mutiges dazu. Dem Produzenten Knut Räppold wird ja klar sein, daß er sich nicht nur euphorische Kritiken einhandeln wird. Wer soll zufrieden sein mit einer CD, die praktisch jede Vorliebe im gleichen Zug enttäuscht, wie sie sie bedient? Es gibt Abschnitte, in denen Männergesangvereine und Liebhaber von Militärmärschen auf ihre Kosten kommen. Die werden natürlich abgeschreckt, sobald die orchestrale Illustration einer Trauerszene ansteht. Zwischendurch tummeln sich Songs oder deren instrumentaler Nachklang, ehe Wilhelm im Schlußteil häufiger in die Gefilde des Bigband-Sounds überwechselt.
08/15 ist ein Album für humorvolle und mitdenkende Sammler, die kein Problem damit haben, die unterschiedlichsten Ebenen dieser Partituren auf sich wirken zu lassen, hier und da die eingestreuten Anspielungen aufzudecken und gleichzeitig die enormen Möglichkeiten einer offensiv gestalteten Filmkomposition zu goutieren.
08/15 ist die Verfilmung von Hans-Hellmut Kirsts gleichnamiger Romantrilogie und deckt einen Zeitraum von kurz vor bis kurz nach dem 2. Weltkrieg ab. Ein Bilderbuch der Absurditäten des Soldatenlebens zwischen Krieg und Frieden. Hatten die Alliierten nach 1945 kein Problem damit, ihre Siege über Hitler-Deutschland multimedial zu inszenieren, so sahen sich die Deutschen als Opfer eines Wahnsinnigen und alliierter Bomben. Chroniken zur Nazizeit beschworen meist den Konflikt zwischen (angeblich) edelmütig-aufrechten Nur-Soldaten und ideologisch-fanatisierten Naziherrschern. Das meiste davon möge im Unfrieden vermodern. 08/15 ist interessanter, weil trotz vergleichbarer Dialogklischees die Schicksale der Hauptfiguren über drei Filme hinweg verfolgt wurden, Kasernendrill der Rekruten, Kriegswirrnisse in der UdSSR und Neubeginn nach der Kapitulation inbegriffen.
Diese Entwicklung spiegelt sich in der stilistisch vielgestaltigen Musik Rolf Wilhelms wider, die das Publikum zehn Jahre nach der «Stunde Null» mit musikalischen Altlasten konfrontiert. Uns Jüngeren mag das Material im Einzelnen recht fern erscheinen – wer jedoch einmal die vielen Anspielungen und Zitate erkannt hat (die reichen für ein Preisausschreiben!), wird zugeben, daß Wilhelm sich den drohenden Fettnäpfen nicht entzogen, sie vielmehr mit weißer Kreide eingekringelt hat. 08/15 ist deshalb so bemerkenswert, weil die zitierten Bausteine ihrerseits eine Zeichenfunktion vertreten hatten, die sich nun abrufen ließ.
Drei Beispiele müssen genügen: Teil II beginnt mit einem Vorspann, der Franz Liszts «Les Préludes» aufgreift. Das mußte 1955 jeden Menschen aufschrecken, der während des Krieges alt genug gewesen war, um den Reichsrundfunk zu hören. Dessen regelmäßige Siegesmeldungen begannen stets mit dem elefantösen Hauptthema der Lisztschen Tondichtung, nach dem Krieg vielerorts ein Tabu. Diese pompös aufgeblähte Sieg-Heil-Fanfare zitiert Wilhelm aber nicht einfach, er verfremdet sie zur aggressiven, instrumentatorisch geschärften Fratze: im Tempo forciert (grandioses Spiel des Graunke Orchesters!) und somit außerszenisch in Anführungsstriche gesetzt. Zweitens erinnert er an die unverzichtbaren Mythen wie Soldatenliebe und Heldentod, verkörpert durch «Mit dir, Lili Marleen» und «Ich hatt’ einen Kameraden» (die getragene Streicherfassung erinnert an die alljährliche Volkstrauertag-Feierlichkeit im alten Bundestag), nacheinander an den Schluß des zweiten Films gestellt. Drittens greift Wilhelm in seiner collagierten Vorspannmusik zu Teil III den Main Title aus Teil wieder auf (nun ohne die «wir ziehen in den Krieg»- Herrlichkeit).
Erst jetzt bemerkt man, daß jener grundierende Trommelrhythmus das Schicksalsmotiv aus Mahlers 6. Symphonie imitiert, der sogenannten «Tragischen»; nicht den pessimistischen Dur-Moll-Wechsel, sondern das mit Ingrimm dazwischenfahrende Schicksalsmotiv, das bei Mahler zuerst zwischen erstem und zweitem Thema auftaucht, bei Wilhelm im Verbund mit der schneidenden Eröffnungsdissonanz – ein bemerkenswertes Element, denn Mahlers Musik, heute eine Zentralsäule des Konzertbetriebs, war zwischen 1933 und 1945 verboten, also tausend Jahre lang; in den fünfziger Jahren nicht mehr als ein Geheimtipp. Mit spürbarem Vergnügen übertüncht Wilhelm immer wieder die Grenzen zwischen Original und Nachahmung, Stilimitat und Topos —und nicht zuletzt dieses Katz- und Mausspiel mit dem Hörer macht eine der Hauptqualitäten der Musik aus.
08/15-Musik ist keine 08/15-Musik. Es fehlt der Platz, um allen Phänomenen nachzuspüren, zumal ich nicht behaupten kann, sämtliche Zitate identifiziert zu haben. Zu sprechen wäre ferner von all den originalen Stücken Wilhelms: den schmissigen Bar-Musiken, zarten Romanzen, der leidenschaftlichen Anteilnahme am Schicksal Vierbeins, und jenem eleganten Walzer (Track 3), den man, gäbe es Geschmacksnuancen für Musik, als «bitter-süß» zu bezeichnen hätte. Ehe nach einer Minute Leon Jessels «Parade der Zinnsoldaten» dazwischenfunkt, hat Wilhelm mit harmonischen Ausweichungen und Rückungen dafür gesorgt, daß man sich dieses Stück dick angekreuzt. Schade ums Booklet, denn das ist diesmal rundum geglückt und skizziert in Form von Volker Pantels vorzüglich recherchierter Einführung die kulturgeschichtlichen Hintergründe.
Die nachfolgende Bewertung sucht daher weniger die Qualität der einzelnen Stücke als den Gesamteindruck zu vermitteln. Mit dem gegenteiligen Extrem zur Spätromantik von UND EWIG SINGEN DIE WÄLDER ist der Wilhelm-Claim nun abgesteckt, die ersten Goldfunde angemeldet. Nächstens mehr?
Matthias | 2000
08/15
Rolf Wilhelm
Cobra Records
71:33 | 33 Tracks