Scott of the Antarctic

Ralph Vaughan Williams

Dutton Epoch CDLX7340

79:48 Min.
41 Tracks

Ebenso faszinierend wie die Musik zu Scott of the Antarctic selbst sind die überlieferten Fakten zu ihrer Entstehung. Nach einem Treffen mit Ernest Irving, dem musikalischen Direktor der Ealing-Studios, und lediglich mit einem Drehbuch-Entwurf und seinem Hintergrundwissen über die schicksalshafte Reise des Robert Falcon Scott ausgerüstet, schrieb Ralph Vaughan Williams den Score ‒ noch bevor die erste Filmklappe fiel ‒ innerhalb von nur etwas mehr als zwei Wochen (im Vergleich dazu: für die Sinfonia Antartica, die auf dem thematischen Material der Filmmusik basiert, liess er sich drei Jahre Zeit). Eine erstaunliche Leistung, denn es handelt sich immerhin um stattliche 80 Minuten Musik.

Ebenfalls noch vor Drehbeginn hatte Irving die Aufnahmen bereits abgeschlossen und er war es auch, der dann die Musik für den Film massschneiderte, was zwangsläufig bedeutete, dass einige Cues verschoben, geschnitten oder gleich ganz weggelassen wurden. Im Endeffekt fand weniger als die Hälfte des Scores Verwendung und in etwa der Form, wie er sich letztlich im Film präsentierte, wurde er von Rumon Gamba und der BBC Philharmonic für Chandos anno 2002 erstmals neu eingespielt.

Dass jetzt nicht wenig überraschend ein weiteres Kapitel zu Scott of the Antarctic aufgeschlagen werden kann, ist dem Dirigenten vorliegender Aufnahme zu verdanken, denn Martin Yates schwärmt schon lange für diese Musik, die er ‒ wie wohl so viele ‒ über die Sinfonie kennengelernt hat. Beim Vergleich der Partituren von Irving und Vaughan Williams fielen ihm etliche Unstimmigkeiten auf; diese umfassen kleinere und grössere Verstümmelungen, Nichtverwendung von im Grunde genommen bedeutender Cues und Änderungen in der Instrumentation. Für ihn galt deshalb: zurück zu den Originalmanuskripten des Komponisten, und somit erklingt diese bedeutende Filmmusik zum ersten Mal so, wie sie bislang vermutlich einzig Vaughan Williams in seinem inneren Ohr gehört hatte.

Das Bemerkenswerteste an Scott of the Antarctic ist zweifellos, wie meisterhaft es Vaughan Williams verstand, die Kälte, die Unbarmherzigkeit, das manchmal Ausserweltliche, aber auch die majestätischen Landschaften der Antarktis durch seine Musik förmlich erfühlbar zu machen. Erreichen tut er dies nebst den dafür notwendigen Orchestrationen mit Schlaginstrumenten wie Tam-Tam, Röhrenglocken, Glockenspiel und Xylophon. Aber auch Sopran, Frauenchor und Wind-Effekte tragen das ihrige zu den vielen, einzigartigen Natur-Stimmungen bei, die besonders dann zum Zuge kommen, wenn im Film Archivmaterial von Eisbergen, Treibeis und Gletschern gezeigt wird.

Die Grundstimmung des Scores ist von eher bedrückender und unheilschwangerer Natur, die selbst an sich putzige Szenen wie den «Penguin Dance» nicht vor einer gewissen Dramatik verschont, und auch die lediglich zu Beginn vernehmende Romantik rund um die Frauen von Scott und Wilson ist eher Schmerz als Herz, wie gerade die hier erstmals zu hörenden, von dunklen Vorahnungen überschatteten Oriana und Sculpture Scene Part 2 exemplarisch aufzeigen.

Wenn man sich mit den weiteren Premieren-Tracks befasst, dann sind zunächst einmal «Office» und «Base Camp» zu erwähnen, die durch kleine Euphonium-Soli auffallen und mit diesem Brass-Band-Element ein typisches britisches Markenzeichen in die Musik einbringen. Bezüglich Grundstimmung eher kontraproduktiv ist dann jedoch der ins gleiche Segment passende «Queen’s Birthday March», der überdies möglicherweise auch gar nicht von Vaughan Williams stammt.

Weitere wichtige Stücke, die sich bisher kein Gehör verschaffen konnten, sind «Ross Island», bei dessen langsamen Holzbläser-Ostinati jegliche Aktivität beinahe zum Erliegen kommt, «Pony March» and «Aphelion», das zunächst trauermarsch-ähnliche Züge aufweist und dann in ein grossartiges Naturschauspiel übergeht, und «The Discovery of the Ten and the Bodies», das sich als tragisches Ende, welches Vaughan Williams vorschwebte, hervorragend geeignet hätte, aber nicht dem Wunsch des Regisseurs nach einem heroischen Ausklang entsprach. Der Komponist musste seine Idealvorstellung ‒ wobei die dann nochmals anders aussah ‒ also für die Sinfonie aufsparen.

Bezüglich Interpretation tun sich Gamba und Yates nichts zuleide, und sowohl die BBC Philharmonic als auch das Royal Scottish National Orchestra gehen als filmmusik-erprobte Ensembles mit Leidenschaft zur Sache. Bei Gamba sind die Tempi etwas zügiger, wobei das bei dieser Musik absolut kein Qualitäts-Kriterium ist. Nicht nur Anhänger von Ralph Vaughan Williams werden aber wegen des fraglos hörenswerten Zusatzmaterials künftig Yates den Vorzug geben, ist dies doch eine Veröffentlichung, die sowohl im Klassik- als auch im Filmmusiklager auf grosse Begeisterung stossen dürfte.

Andi, 24.5.2017