von Andi Süess
Inspiriert von Phils Goldsmith-Wochen, befasse ich mich über diese Feiertage ein wenig mit Miklós Rózsa, denn der Komponist gehört ‒ vor allem dank seines Dauerbrenners BEN-HUR ‒ zu Ostern wie bunte Eier und Schoko-Hasen. Aber um BEN-HUR oder andere epische Scores soll es hier nicht gehen, sondern grossenteils um Filmmusiken Rózsas die ‒ ob zu Recht oder Unrecht ‒ im Schatten seiner ganz grossen Werke stehen, an die man nicht zwangsläufig denkt, wenn man mal wieder Lust auf ein wenig Rózsa hat. Neben Einzeltiteln werden im Folgenden auch ein paar Compilations im Fokus stehen. Los geht’s.
Tribute to a Bad Man
Für Robert Wise unternahm Rózsa 1956 einen seiner äusserst seltenen Ausflüge ins Western-Fach ‒ es sollte nach THE WOMAN OF THE TOWN (1943) erst sein zweiter und gleichzeitig auch letzter sein. Der in Colorado gedrehte Film handelt von einem gefürchteten Rancher (James Cagney), der auf seiner riesigen Pferdefarm mit eiserner Faust für Recht und Ordnung sorgt (der deutsche Titel JEREMY RODOCK ‒ MEIN WILLE IST GESETZ sagt diesbezüglich eigentlich alles). Das grandiose «Prelude» präsentiert mit dem Hauptthema unverkennbar Rózsas ganz eigene Interpretation von Americana. Das Thema lässt aber nicht nur in gross angelegten Momenten weite Landschaften im Kopf entstehen, sondern kann auch in lieblichen und pastoralen Klängen insbesondere von den Holzbläsern genossen werden. Das marschartige «hanging theme» ist ein weiterer wichtiger Baustein dieses Scores, der um vielgestaltige Emotionen im düsteren, aber auch actionbetonten Bereich besorgt ist. Eher schwermütige Romantik kommt mit «Pandrevoum» ins Spiel; dieses Thema basiert ‒ in Verbindung mit der von Irene Papas verkörperten Jocasta ‒ auf einem griechischen Volkslied. Während Papas den Song in einer Szene des Films singt, verwendet Rózsa ihn ansonsten strikt instrumental. Sowohl «Pandrevoum» als auch «hanging theme» lassen atmosphärisch öfters mal an BEN-HUR oder KING OF KINGS denken, aber man würde zu weit gehen, dies als deplatziert zu bezeichnen. Es wird zwar vermutlich Leute geben, die TRIBUTE TO A BAD MAN als zu entfernt vom vertrauten Westernfilmmusik-Schema empfinden, aber es ist eben gerade diese Andersartigkeit ‒ die einem sich treu bleibenden Rózsa zu verdanken ist ‒ die diesen Score zu einem sehr wertvollen Genre-Beitrag macht.
FSM bereitete 2003 mit der Veröffentlichung der Musik allen Fans eine grosse Freude, und sie ist ‒ oh Wunder ‒ zumindest bei SAE noch immer erhältlich. Das gilt übrigens auch für ein paar andere der hier besprochenen Titel aus dem Hause FSM, und das, obwohl diese CDs mittlerweile auch schon wieder recht betagt sind.
The V.I.P.s
Infolge verspäteter Flüge von London in die USA wird eine illustre Gruppe «wichtiger» Menschen genötigt, auf dem Heathrow Flughafen zu nächtigen. Wichtige Menschen müssen natürlich auch dementsprechend besetzt werden, und so durfte Regisseur Anthony Asquith 1963 sein Nervenkostüm mit Darstellern wie Richard Burton, Elizabeth Taylor und Orson Welles auf die Probe stellen. Einen Oscar für die beste Nebendarstellerin heimste Margaret Rutherford (die unvergessliche Miss Marple) für ihren kurzen Auftritt als Herzogin von Brighton ein.
Mit einem wahren Schmachtfetzen von Film glaubt man es zu tun zu haben, wenn man dem «Prelude» lauscht. Bei aller Liebe zu Rózsa, aber hier sind ihm bei der Präsentation der Hauptthemen die Pferde der Leidenschaft doch etwas gar arg durchgegangen. Ein brüsker, aber nicht unwillkommener Wechsel erfolgt mit dem sympathischen Thema für die Herzogin, das Rózsa nach Art der englischen Musik des 18. Jahrhundert gestaltet. Streicher, Flöte, Cembalo und Trompete stehen im Mittelpunkt. Danach kehren die Hauptthemen zurück, die ‒ wenn in Bereichen von Verzweiflung, Melancholie und Tragik tätig ‒ oftmals immer noch wie zu Beginn den Hang zur Übertreibung haben, aber in melancholischen, düsteren und idyllischen Momenten auch dezenter in Erscheinung treten. Wiederum einen kurzen Stimmungswechsel erlaubt sich Rózsa mit dem strahlenden, an LUST FOR LIFE erinnernden «Emotional Cost». Im beinahe zehnminütigen, aus mehreren Cues zusammengesetzten Schlusstrack kocht die Leidenschaft ‒ auch wenn eine Sologeige zwischenzeitlich interveniert ‒ schubweise wieder auf, und ein für Rózsa standesgemässes Finale schliesst diesen mittelprächtigen Score ab.
THE V.I.P.S gibt es sowohl auf LP als auch auf CD, die wohlklingenste Ausgabe dürfte sich in der Rózsa‒Treasury-Box von FSM befinden. Hierbei handelt es sich jedoch, wie bei allen Veröffentlichungen, um eine rearrangierte Albumeinspielung, die Filmversion gilt als verloren.
Great Movie Themes composed by Miklós Rózsa
Dieses seltene Album findet man in der FSM-Box auf der selben CD wie THE V.I.P.S. 1963 veröffentlicht, diente es wohl als Promotion für SODOM AND GOMORRAH. Es enthält zum grossen Teil von Rózsa eigens dafür erstellte, mit dem Rome Symphony Orchestra eingespielte Konzertversionen einiger seiner bekanntesten Filmkompositionen, aber mit dem «Prelude» aus KING OF KINGS und den Ouvertüren zu BEN-HUR und EL CID auch drei den entsprechenden LPs entnommene Tracks.
Das Programm wird mit dem damals brandneuen, aus den Liebesthemen von SODOM AND GOMORRAH zusammengesetzten «Theme & Answer to a Dream» eröffnet; ein wunderbares Stück, das die meisten Rózsa-Fans wohl erst durch die S & G-Neueinspielung von Prometheus/Tadlow kennengelernt haben dürften. Eine Kurzversion des «Spellbound Concerto», Walzer aus LYDIA und MADAME BOVARY, der «Triumphal March» aus QUO VADIS und das Liebesthema aus DIANE sind weitere Garanten für die musikalisch hochstehende Qualität dieser Zusammenstellung.
Der grüne Rózsa
Grün gehört zu den Farben, die man mit Ostern verbindet. Deshalb bietet es sich an, auch jene Filmmusiken Rózsas zu besprechen, deren Titel das Wort «green» beinhalten. Ein erster solcher taucht mit der musikalisch eher sparsam ausgestatteten Graham-Greene-Verfilmung THE GREEN COCKATOO bereits 1937 auf; dass dieser frühe Rózsa-Score wohl nie veröffentlicht werden wird, ist stark anzunehmen. Er kann als eine Art Vorläufer zu den späteren Film Noirs betrachtet werden und weist im Prinzip schon viele der Merkmale auf, die die Musik Rózsas im Krimi-Genre auszeichnen: ein von düsteren Streichern und Holzbläsern geprägter Vorspann, wenig Zurückhaltung im Bereich von Dramatik und Action und leidenschaftliche Streicher ‒ mit der Betonung auf «leiden».
Erst 17 Jahre später folgt ein weiterer, in diese grüne Kategorie passende Film. GREEN FIRE handelt von einem Bergbau-Ingenieur (Stewart Granger), der in Kolumbien zufällig auf eine verlorene Smaragd-Mine der Konquistadoren stösst. Daraufhin kriegt er es nicht nur mit lokalen Banditen zu tun, sondern in amourösen Dingen auch mit der Betreiberin einer Kaffeeplantage, die in der Verkörperung durch Grace Kelly einiges an Glamour in den Film bringt. Dem trägt vielleicht auch der dem Zeitgeist geschuldete, romantische Chor (aussergewöhnlich für Rózsa) im «Prelude» Rechnung, der das Hauptthema einführt. Dieses liebenswerte Herzstück des Scores streichelt die Seele des Hörers in vielen gefühlvollen, friedlichen und impressionistischen Bearbeitungen ‒ oft mit Gitarrenbegleitung, um das südamerikanische Setting zu betonen. Letzteres macht sich auch in Sequenzen, die die Arbeit auf der Plantage unterlegen, in ausgelassenen Klängen bemerkbar. Gegen Ende des Scores verdichten sich dann Dramatik und Action, und auch in diesen packenden und mitreissenden Cues zeigt sich Rózsa von seiner besten Seite. Es muss ihm grossen Spass und Freude bereitet haben, diesen für ihn nicht ganz alltäglichen Film zu vertonen, und das überträgt sich auf den Hörer. GREEN FIRE ist ein kleines Juwel, das keinen Rózsa-Fan enttäuschen dürfte.
Das trifft auf THE GREEN BERETS eher nicht zu. Auch wenn man den Film wie in meinem Fall noch nie gesehen hat, erfüllt einen allein die Tatsache, dass Erz-Patriot John Wayne einen von seinem Sohn Michael produzierten Film über den Vietnamkrieg dreht, mit Argwohn. Rózsa mag ähnlich gedacht haben, denn grosse Inspiration sucht man hier, zumindest im dramatischen Underscore, weitgehend vergeblich. Die Allgemeinheit identifiziert den Film aus musikalischer Sicht über die im Vor- und Nachspann erklingende «Ballad of the Green Berets» ‒ in deutschen Landen einst als «Hundert Mann und ein Befehl» in Interpretationen von Freddy Quinn und Heidi Brühl zu Ruhm und Ehre gekommen ‒, das von Robin Moore und Barry Sadler stammende, typisch amerikanische Soldatenlied entstand jedoch schon vor dem Film und wird von Rózsa konsequent vermieden. Der Filmmusikfan hingegen sucht sein Glück am ehesten in den der asiatischen Pentatonik nachempfundenen Stücken, denn diese von einem 18-köpfigen Ensemble (Holzbläser, Perkussion, Klavier, Glockenspiel, Gitarren, Sheng und Shamisen) vorgetragene Musik ist das Originellste eines Scores, der nicht zu den Sternstunden des Komponisten gehört. Aber keine Angst, ein komplettes Desaster ist er ‒ wann gibt’s das bei Rózsa schon? ‒ trotzdem nicht.
Sowohl GREEN FIRE als auch THE GREEN BERETS wurden von FSM veröffentlicht.
Die Polydor-Alben
Sie geniessen zu Recht einen legendären Ruf, die drei Alben, die Miklós Rózsa zwischen 1975 und 1977 mit dem Royal Philharmonic Orchestra für das Polydor-Label eingespielt hat. Von Christopher Palmer vorzüglich arrangiert und vom Orchester hervorragend interpretiert, bieten die präsentierten Suiten und Themen einen beeindruckenden Querschnitt durch Rózsas Filmschaffen von 1937 bis 1970, wobei auch weniger bekannte Titel berücksichtigt werden. Viel besser geht es in Sachen Sampler und Neueinspielungen nicht, und deshalb ist der Wunsch nach einer Wiederveröffentlichung in Fankreisen seit Jahren sehr gross. Das Problem sind hierbei die bislang wohl unauffindbaren Bänder.
Hier im Einzelnen auf alles einzugehen, würde den Rahmen sprengen, deshalb konzentriere ich mich auf ein paar wenige Highlights. KNIGHT WITHOUT ARMOUR (1937) ist der erst zweite Filmscore Rózsas, und er bekommt es bereits mit Abenteuer, Drama und Historie zu tun, zumindest wird der mit Marlene Dietrich und Robert Donat besetzte Streifen mit genau diesen Schlagwörtern angepriesen. Die fast zehnminütige Suite zeigt einen Komponisten, der schon mehr als bereit ist für jene Genres, mit denen er künftig am meisten zu tun haben wird. Der besondere Reiz bei KNIGHT WITHOUT ARMOUR liegt in der Tatsache begründet, dass sich für Rózsa die seltene Gelegenheit bietet, sich mit überzeugenden Ergebnissen an russischer Musik zu versuchen.
THE RED DANUBE (1949) spielt im Wien der Nachkriegszeit und erzählt von einem britischen Oberst, der die sowjetische Behörde bei der Rückschaffung ihrer Bürger unterstützen soll. Die aus «Prelude», «Nocturne» und «Deportation Scene» zusammengesetzte Suite präsentiert sich genau so, wie vermutet werden kann: der friedvolle, von Streichern und verträumten Holzbläsern beherrschte Mittelteil wird von mächtigen, martialischen, in Marschrhythmen daherkommenden Klängen flankiert. In dieser Form und Interpretation dargebracht, ist die Suite der Filmeinspielung (inkomplett in der Rózsa-Box zu finden) ebenbürtig, wenn ihr nicht gar vorzuziehen.
Das gilt auch für MEN OF THE FIGHTING LADY (1954); wo Rózsa in der Filmversion (von FSM zusammen mit VALLEY OF THE KINGS erhältlich) für «Blind Flight» gegen 20 Minuten Zeit hat, um einen erblindeten Piloten mit zunehmend hektisch und panisch werdender Musik zurück zu seinem Flugzeugträger zu begleiten, bleiben ihm für das Album knapp sieben Minuten, aber das funktioniert und überzeugt auch in dieser kompakten Form ganz gut, bezüglich konsequenten Dramatikaufbaus sogar besser als das Original.
Das Prunkstück der gesamten Sammlung stellt für mich indes die achteinhalb-minütige «Fantasy» aus THE PRIVATE LIFE OF SHERLOCK HOLMES dar, die ‒ wie der Name suggeriert ‒ losgelöst vom Film ihre eigene Geschichte erzählt. Es werden die wichtigsten Themen zu einem vorzüglichen Konzertstück verarbeitet, dessen emotionale Höhepunkte immer wieder für Gänsehaut sorgen. Natürlich fehlt auch das dem Violinkonzert entnommene Liebesthema nicht; es wird hier mit viel Sensibilität von Konzertmeister Erich Gruenberg dargebracht.
Wie erwähnt, wartet die Welt schon seit langem auf die offizielle Wiederveröffentlichung dieser Kostbarkeiten, inoffiziell ist dies schon längst geschehen, da das Bootleg-Label «Soundstage Records» sie um die Jahrtausendwende auf 2 CDs gepresst (oder gebrannt) hat, allerdings unter dem wenig aussagenden Titel «Miklós Rózsa ‒ A Musical Autobiography» und ‒ im Gegensatz zu den LPs ‒ in chronologischer Reihenfolge. Da sie in allen Bereichen jedoch gerade mal den Mindestanforderungen genügen (der Klang ist allerdings soweit ok), sind sie nicht viel mehr als Notlösungen, die irgendwann mal vielleicht entsorgt werden können.
The World, the Flesh and the Devil
In diesem Endzeit-Drama wirken lediglich vier Darsteller mit; drei davon sind Schauspieler, beim vierten handelt es sich um das menschenleere New York City, das auf beängstigende Weise an die Situation erinnert, in der die Metropole ‒ und mit ihr die ganze Welt ‒ momentan steckt. Nur dass hier nicht ein Virus die Menschheit auslöscht, sondern irgend ein radioaktives Gas. Der Schwarzweiss-Film fühlt sich optisch und erzählerisch wie eine TWILIGHT ZONE-Episode im Kinoformat an und entstand auch zeitgleich zur ersten Staffel der Kult-TV-Serie.
Das «Prelude» wird aus den zwei Hauptthemen aufbereitet: das düstere, martialische «Armageddon» und das heroisch-noble, hoffnungsvolle für Ralph (Harry Belafonte). Nach dem dramatischen «Escape» (Ralph überlebt, weil er in einer Mine verschüttet war), zieht es den vermeintlich letzten Mann auf Erden nach New York, wo er zunächst lange Zeit alleine durch die verlassenen Strassen Manhattans streift. Rózsa begleitet ihn durch seine Emotionen ‒ die von Angst, Verzweiflung, Hoffnung, Trauer und Einsamkeit geprägt sind ‒ mit trefflichen Bearbeitungen der Hauptthemen. Von Ralph zunächst unbemerkt, betritt mit Sarah (Inger Stevens) eine zweite Überlebende die Szenerie, und mit ihr ein neues, zartes, stimmungsmässig nicht leicht einzuordnendes Thema.
«Dummies/Light/Shadow Dance» lenkt für ein paar Minuten von der ganzen Misere ab. Ralph treibt allerlei Schabernack mit Schaufensterpuppen und bringt Strom und damit auch Licht wieder zum Funktionieren. Rózsa kommentiert diese Szenen mit verspielter, jazziger, aber auch freudiger und triumphaler Musik. Kurz darauf kommt es zur ersten Begegnung mit Sarah, und die vorsichtige Annäherung der beiden schlägt sich im Score mit zunächst zurückhaltender Romantik nieder. Erst nach rund zwei Dritteln des Films erscheint Mel Ferrer und komplettiert das Schauspieler-Trio. Sein Ben gibt sich zunächst sehr jovial, doch er sorgt ‒ da er genau wie Ralph aus nachvollziehbaren Gründen Sarah begehrt ‒ bald schon für Reibereien, die auch von Rózsa aufgearbeitet werden, und die sich schliesslich in einem auf den Strassen und Dächern Manhattans stattfindenden Showdown entladen, was dem Komponisten die Gelegenheit gibt, in einem längeren Schlusstrack noch einmal ordentlich Spannung und Dramatik aufzubauen, aber auch mit einem Zuversicht schöpfenden «Finale» das Trio in ein mögliches Happy End zu entlassen.
Auch wenn man sich Bernard Herrmann als Idealbesetzung für diese Art von Film vorstellt, macht Miklós Rózsa keinesfalls eine schlechte Falle. Seine Musik ist ambitioniert, gut strukturiert und thematisch überzeugend. Deshalb ist die FSM-CD ein geschätzter Teil der Rózsa-Sammlung.
Lust for Life / Background to Violence
Mit dem Frankenland State Symphoy Orchestra hat Rózsa einige seiner Film- und Konzertwerke eingespielt, darunter für Decca 1958 auch vorliegendes Album, das unter anderem von Varèse 1978 auf LP und 1993 auf CD wiederveröffentlicht wurde. BACKGROUND TO VIOLENCE befasst sich mit den drei von Mark Hellinger für Universal in den 1940er-Jahren produzierten Film Noirs, für die Rózsa musikalisch verantwortlich war. Die Suite bietet einen kleinen Einblick in die ansonsten kaum gross verfügbaren BRUTE FORCE, THE KILLERS und THE NAKED CITY, wobei der Komponist darauf achtete, dass nebst den für das Genre typischen, harschen Klängen auch ruhigere und sorglosere Momente zum Zug kommen, wie im wehmütigen «Nocturno», im depressiven «Despair» und im erlösenden «Epilogue: The Song of a City». Es geht Rózsa also in erster Linie um eine konzertante Struktur ‒ was auch die Tracktitel belegen ‒ und die Zusammenstellung ist formidabel.
Dies lässt sich auch über die Suite aus LUST FOR LIFE sagen, Rózsas meisterhafter Musik zu Vincente Minellis prächtiger van-Gogh-Biografie, die 1956 mit Kirk Douglas in der Titelrolle entstand. Wie der Komponist sämtliche Aspekte dieses ungewöhnlichen und tragischen Künstler-Lebens umsetzt, ist schlicht umwerfend. Da werden die vor Hitze flimmernden Sommertage Südfrankreichs geradezu spürbar, und fast bildet man sich ein, die Musik sei manchmal in die spezifischen van-Gogh-Farben getaucht. Rózsa nimmt sich in Zusammenstellung und Orchestration dieser Suite ein paar Freiheiten, auf eine sei besonders hingewiesen: im vielleicht besten Track «Sunflowers» wird das Gauguin-Thema dem Waldhorn (mein Lieblingsinstrument übrigens, was in dieser Angelegenheit mit eine Rolle spielt) anvertraut, was man so in der Filmeinspielung nicht antrifft. Da ich die Suite lange vor dem Original kennen lernte, war ich so daran gewöhnt, dass ich direkt etwas vermisste, als ich die wieder mal FSM zu verdankende Veröffentlichung des kompletten Filmscores zum ersten Mal hörte. Aber auch sonst sind mir diese 22 Minuten, die die Essenz von LUST FOR LIFE aufs Beste herausfiltern, eigentlich fast lieber als das Original. Aus meiner Sicht gehört diese Kompilation in jede anständige Rózsa-Sammlung.
The Power
Diesen Science-Fiction-Thriller aus dem Jahr 1968 ‒ gedreht von Byron Haskin und produziert von Rózsas Landsmann George Pal ‒ habe ich als ziemlich wirr in Erinnerung. Und die oftmals surreal wirkende Musik steht dem zumindest nicht entgegen. Dies macht sich bereits im «Prelude» bemerkbar, wo es mit einem eröffnenden, manischen Cue gleich so richtig zur Sache geht, es folgt mit dem ebenfalls etwas neben der Spur stehenden «Gypsy Theme» das einprägsamste Element des Scores, nicht zuletzt weil Rózsa hier mit dem Zimbal arbeitet. Diese ungarische Version des Hackbretts ‒ eigentlich das Instrument seiner Heimat ‒ hat der Komponist weder vorher noch nachher in seiner Filmmusik verwendet, zumindest nicht auf so auffällige Art und Weise.
Sich im Kreis zu drehen, scheint in diesem Streifen keine gute Idee zu sein, denn wer es tut, für den geht die Sache ‒ so deutet es die am Rand des Wahnsinns stehende Musik in «Death in the Centrifuge» und «The Merry-Go-Round» an ‒ nicht allzu glimpflich aus. Eine allzu kurze, verspielte Verschnaufspause gibt es mit «Toy Soldiers», während die Musik in «Desert Agony» fast schon halluzinatorisch wirkt. Ein unerwarteter Stimmungswechsel wird mit dem längeren «Viva L’Amour» vollzogen; hier geben zwei Gitarren eine romantische, spanisch gefärbte Weise zum Besten. In den Source-Stücken «Hallgató» und «The Power Csárdás» wendet sich Rózsa mit Violine, Cello und Zimbal der ungarischen Volksmusik zu. Dann steht wieder die Dramatik im Mittelpunkt, die jedoch ‒ von ein paar Ausreissern abgesehen ‒ je länger, je «normaler» wird.
30 Minuten von THE POWER wurden einst von Tony Thomas auf LP veröffentlicht, klanglich nicht optimal und illegal. Zumindest letzteres war bei FSM nicht der Fall, als Lukas Kendall diese halbe Stunde ‒ gekoppelt mit Russell Garcias ATLANTIS: THE LOST CONTINENT ‒ 2005 auf CD herausbrachte. Für die Rózsa-Box konnten dann aber glücklicherweise die rechtzeitig in den Warner-Bros.-Studios entdeckten Stereo-Master verwendet werden, die den kompletten, 46-minütigen Score sowie einiges an Source-Musik enthalten. Glücklicherweise deshalb, weil THE POWER zu den eigenwilligsten Scores von Rózsa gehört und eine grosse Faszination auf den Hörer ausübt.
Eye of the Needle
Er ist der gefährlichste Nazi-Spion, Faber, genannt «die Nadel», weil er jeden, der ihm in die Quere kommt, mit einem gezielten Stilett-Stoss in den Bauch ins Jenseits befördert. Quer durch Grossbritannien gejagt, weil sein Wissen über die Invasionspläne der Alliierten Deutschland nie erreichen darf, landet er schliesslich auf einer kleinen schottischen Insel, wo es zu einer leidenschaftlichen Affäre mit einer von ihrem verkrüppelten Gatten sexuell vernachlässigten Frau kommt, bevor schliesslich das Ende naht.
1981 war Rózsas Kompositonsstil zwar schon längst überholt, aber da die Ken-Follett-Verfilmung EYE OF THE NEEDLE ebenfalls altmodisch daherkommt, passt das dann doch wieder ganz wunderbar. Richard Marquand lässt sich viel Zeit bei Charakterzeichnung und Spannungsaufbau, scheint sich diesbezüglich oft Hitchcock zum Vorbild zu nehmen, und bei der nervenaufreibenden, sich in einem Leuchtturm abspielenden Schlussphase könnte durchaus Peckinpahs STRAW DOGS Pate gestanden haben. Kate Nelligan und Ian Bannen sind in ihren Rollen gut besetzt, aber es ist eindeutig Donald Sutherlands Film, der für den zwar mit Eiseskälte vorgehenden, aber irgendwo auch mitleiderregenden Protagonisten geradezu prädestiniert ist.
Während für die Filmaufnahme das Royal Philharmonic Orchestra zur Verfügung stand, ist auf der 1981 von mehreren Labeln veröffentlichten Musik (von Varèse als Club- und Encore-CD 1991 bzw. 2012 für kurze Zeit wieder erhältlich) das Nürnberg Symphony Orchestra in einer überarbeiteten Fassung des Scores zu hören. Diese präsentiert im Film nicht vorkommende (oder vielleicht einfach nicht verwendete) Stücke wie das friedvolle «Englisch Wedding» oder erweitert bestimmte Cues wie das mit spannenden Marschrhythmen durchsetzte «Camouflage» (Faber entdeckt einen gefakten alliierten Luftwaffenstützpunkt mit Flugzeugattrappen). Und auch abgesehen davon ist diese Fassung ‒ auch wenn die Tempi manchmal eine Spur gemächlicher sind ‒ der Filmeinspielung ebenbürtig und überzeugt sowohl in der Ausführung von Fabers Thema in Form eines ruhelosen, im unberechenbaren 5/4-Takt gehaltenen Marsches als auch des Liebesthemas, das orchestral und im Spiel der Solovioline an Rózsas beste Tage erinnert. Von Altersmüdigkeit ist überhaupt nichts zu spüren, im Gegenteil, der 74-jährige Komponist gibt hier ‒ in seiner zweitletzten Filmmusik ‒ nochmals alles, gelegentlich etwas überambitioniert vielleicht, aber wer könnte ihm das verdenken?
Die Veröffentlichung der Filmeinspielung wäre schon noch sehr wünschenswert, aber sollte das nie geschehen, ist’s auch nicht so tragisch, denn dieses Album erinnert mich stets daran, dass EYE OF THE NEEDLE neben DEAD MEN DON’T WEAR PLAID der einzige Rózsa-Film ist, den ich noch als Kinopremiere erleben durfte und die LP zu den ersten des Komponisten gehörte, die ich mir zugelegt habe. Deshalb wird die Musik in dieser Form für immer einen speziellen Platz in meinem Herzen haben.
Mit diesen passenden Schlussworten gehen auch die ruhigen Ostertage, die ich in angenehmer Gesellschaft mit Miklós Rózsa verbringen durfte, langsam ihrem Ende entgegen. Es hat sich gelohnt, sich wieder einmal intensiver mit seiner Musik zu beschäftigen. Manches habe ich neu entdeckt, mit anderen Ohren gehört, das ein oder andere wird nicht so schnell wieder im CD-Player landen. Aber eigentlich ‒ und das ist das Verlässliche an Rózsa ‒ sind selbst seine verunglückten Scores einen gelegentlichen Hördurchgang wert. Aus der Sammlung geschmissen wird jedenfalls nichts.
Ein herzliches Dankeschön geht an Phil, der sich um das passende Bildmaterial gekümmert hat.
13.4.2020