The Dairy of Anne Frank

Bedeutsam war THE DIARY OF ANNE FRANK sowohl für George Stevens, der nebst anderen, namhaften Kollegen wie William Wyler und John Huston für das US-Militär WW2-Dokumentarfilme drehte, und den vor allem die traumatischen Zustände im KZ Dachau für den Rest seines Lebens prägten, wie auch für Alfred Newman, den Hollywood-Komponisten mit jüdischen Wurzeln, für den der Film zum krönenden Abschluss seiner langen und hingebungsvollen Tätigkeit bei 20th Century Fox werden sollte. Und wer weiss, vielleicht flossen auch ein paar wehmütige Gefühle beim Gedanken an den nahenden Abschied seines beruflich wichtigsten Lebensabschnittes in den Score zu THE DIARY OF ANNE FRANK.

Dabei basiert diese erste Kino-Adaption nicht direkt auf dem berühmtesten Tagebuch der Welt, sondern auf der Broadway-Bearbeitung von Frances Goodrich und Albert Hackett, die auch am Drehbuch mitbeteiligt waren. Mit Joseph Schildkraut und Gusti Huber als Annes Eltern sowie Lou Jacobi als Hans Van Daan übernahmen drei Darsteller die Parts, die sie schon im erfolgreichen Theaterstück gespielt hatten, während Bühnen-Anne-Frank Susan Strasberg darauf verzichtete, auch im Film mitzuwirken. Was folgte, nahm schon fast Scarlett O’Hara-Dimensionen an, denn es wurden weltweit medienwirksam rund 6000 Mädchen auf ihre Tauglichkeit für die Rolle geprüft. Die Wahl fiel schliesslich auf Millie Perkins ‒ ein Model aus New Jersey ‒ die ebenso wie Diane Baker als Annes Schwester Margot in diesem Film debütierte. Richard Beymer, der kurz darauf als Tony in WEST SIDE STORY seine Sternstunde hatte, spielt Peter van Daan, dessen Mutter wird von der grossartigen Shelley Winters verkörpert, die dafür mit dem Oscar als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde.

Alfred Newman besuchte das Anne-Frank-Haus (das als riesiges, mehrstöckiges Set nachgebaut wurde) in Amsterdam persönlich und die Ehrfurcht, die er dabei empfunden haben muss, hinterlässt in seinem Score ihre Spuren. Er konzentriert sich im Wesentlichen auf die emotionalen Kernelemente der Geschichte: die isoliert lebende, kleine Schicksalsgemeinschaft, die von der Aussenwelt kaum etwas mitkriegt, mit kleinen Ausnahmen wie zu Blasmusik vorbeimarschierende Soldaten («Ericka»), Trauermarsch-Klängen, wenn der Abtransport von Juden beobachtet wird («The Captives»), oder einem kurzen, patriotischen Intermezzo, wenn Flugzeuge der Allierten am Himmel auftauchen («The Invasion»). Das veränderte Zeitempfinden, das zwangsläufig entsteht, wenn man praktisch durchgängig mucksmäuschenstill sein muss, um sich nicht zu verraten, spielt eine grosse Rolle im Spannungsbereich der Musik. So agieren in «The First Day», «The First Burglary» und «The Second Burglary» die tiefen Instrumente wie das quälend langsame Ticken einer mächtigen, an die ständig drohende Gefahr mahnende Uhr.

Im thematischen Bereich zeigt sich Newman auf der Höhe seines Könnens, einfühlsam lässt er Holzbläser und natürlich die ausdrucksvollen und beseelten Streicher seines Hausorchesters zu Wort kommen, und oft erhebt die wohl von Louis Kaufman bediente Solo-Violine tiefschürfend ihre Stimme. Das der Tragik und Verzweiflung verhaftete Hauptthema und das bittersüsse, der Wiener Musik verpflichtete Thema für Anne, das sich auch mal als unbeschwerter Walzer nach Art von Richard Strauss präsentiert, gereichen dem Score zur Ehre. Die Gefühlswelt der Teenagerin, die sich der Tragweite der Lage noch nicht vollends bewusst ist, äussert sich aber auch anderweitig, so im rührenden Thema für die langsam erwachende Liebe zu Peter, in Momenten zurückhaltender Verspieltheit oder in der dunklen Verstörtheit eines Alptraums.

Mit dieser limitierten Edition von La-La Land erhält THE DIARY OF ANNE FRANK endlich seine offizielle Erstveröffentlichung auf CD, und zwar sowohl die 1959er-Album- als auch die Filmeinspielung, die sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Jedoch sind die auf der LP zu hörenden Glocken der Amsterdamer Westerkerk, deren Klang Anne Frank so liebte, in der Filmversion ebenso wenig vorhanden wie der Erika-Marsch; dessen Absenz ist, da ein nicht von Newman stammendes Stück Source-Musik, aber leicht zu verschmerzen.

Begleitet wird die Doppel-CD von einem liebevoll gestalteten Booklet, das mit einem Vorwort von Diane Baker (die sich voller Bewunderung und Dankbarkeit an die Aufnahme-Sessions, zu denen sie von Newman eingeladen wurde, erinnert) und Beiträgen von Julie Krigo und Chris Malone aufwartet. Wie lange die Produktion ‒ allerdings verzögert durch die Pandemie ‒ dauerte, zeigt sich daran, dass als Mitproduzent auch der 2019 verstorbene Nick Redman noch gelistet ist. Wie bedauerlich, dass er die Veröffentlichung dieses Scores, der in die Top-Kategorie des Golden Age gehört, nicht mehr erleben durfte.

Andi  |  31.01.2022

 

THE DIARY OF ANNE FRANK

Alfred Newman

LLLCD 1562

CD 1 75:41 | 23 Tracks
CD 2 66:56 | 21 Tracks

Limitiert auf 2000 Stk.