Zum Jahresausklang 2017 überrascht Intrada mit einer liebevoll gestalteten Sammlung von 11 Waxman-Scores, bei denen es sich allesamt ‒ zumindest, was die Originale betrifft ‒ um Erstveröffentlichungen handelt und die sich je nachdem, was die Archive vor allem bei den älteren Sachen noch hergaben, in verschiedenen Komplettheits-Graden präsentieren. Dass dabei insbesondere DR. JEKYLL AND MR. HYDE in recht repräsentierbarem Zustand aufgefunden wurde, ist ein Glücksfall. Aber das Set lebt nicht von diesem wohl gesuchtesten aller hier vertretenen Titel allein, sondern enthält auch sonst so einige Kostbarkeiten, darunter auch solche, die wahrscheinlich kaum ein Waxman-Fan auf der Rechnung hatte.
Mit CAPTAINS COURAGEOUS (1937) ist ein Einstieg nach Mass gewährleistet. Diese Rudyard Kipling-Verfilmung mit dem damaligen Kinderstar Freddie Bartholomew handelt von einem ins Meer gestürzten Jungen, der auf einem Fischerboot landet und von Spencer Tracy, der für seine Rolle den ersten seiner zwei unmittelbar nacheinander gewonnenen Oscars in Empfang nehmen durfte, ein paar Lektionen in Sachen Arbeit und Leben erhält. Der Score wird in seiner Gänze plus ein paar Alternates präsentiert. Da der Film als « As great as Mutiny on the Bounty» angepriesen wird, erhält er von Waxman seinen Anteil an spritziger Seefahrermusik (mit «Cushman Sailing/Anchor Up/Sailing Along» als diesbezüglichem Vorzeigestück), aber darüber hinaus auch ein rührendes, auf einem portugiesischen Volkslied basierendes Hauptthema und eine gute Portion Dramatik und Tragik. Waxman war zwar noch keine drei Jahre in Hollywood, stand aber bereits voll im Saft, wie man diesem Feuerwerk an Emotionen entnehmen kann.
Eine weitere Literatur-Verfilmung mit Spencer Tracy ergab sich für Waxman 1941 mit DR. JEKYLL AND MR. HYDE. Zwar handelt es sich hierbei filmisch nicht um die beste Adaption des Robert Louis Stevenson-Klassikers (diese Ehre gebührt der 1931er-Version mit Fredric March), aber musikalisch bleibt sie unerreicht. Daher ist es extrem schade, dass nicht der komplette Score überlebt hat. Beispielsweise ist mit «Transformation» ein wichtiger Cue verloren, der John Williams› Hai-Motiv aus JAWS vorwegnimmt. Der findet sich aber wenigstens auf der vorzüglichen, von Christopher Palmer erstellten Suite, die bislang über das Fehlen des Originals hinwegzutrösten vermochte. Waxman zeigt sich sehr firm bei der Umsetzung der fatalen Versuche des Dr. Jekyll und zeichnet die Seele des Mr. Hyde so düster wie die nächtlichen Strassen des viktorianischen Londons. Die gespaltene Persönlichkeit des Protagonisten widerspiegelt sich auch in der Charakteristik der Themen seiner zwei Frauen, für die Waxman bestehende Melodien verarbeitet: zum einen den Strauss-Walzer «Morgenblätter» für Jekylls Verlobte Beatrix, zum anderen «See Me Dance The Polka» ‒ ein altes Music-Hall-Stück von George Grossmith ‒ für Ivy, Freudenmädchen und Lustobjekt von Hyde. Nach einem nervenaufreibenden Klimax wird der unglückliche Wissenschaftler choral zur Erlösung im christlichen Geist begleitet.
1939 gibt Mick Rooney den Titelhelden in THE ADVENTURES OF HUCKLBERRY FINN, einer der zahlreichen Verfilmungen von Mark Twains Meisterwerk. Der «Main Title» gibt zwei Hauptthemen preis; das sorglose Leben des jungen Vagabunden im Speziellen sowie Südstaaten-Feeling im Allgemeinen erschliesst sich durch ein munter aufspielendes Banjo, das getragene, an einen Spiritual erinnernde Thema für den Sklaven Jim könnte man sich ebenso gut auch für den majestätisch dahinfliessenden Mississippi vorstellen. Im ersten Teil des Scores operiert Waxman oft mit viel Schalk im Nacken, während in der aufwühlenden Dramatik des zweiten Teils kurioserweise ab und zu eine noch frühere Inkarnation des JAWS-Motivs als in JEKYLL zu vernehmen ist. Waxman schien sich also dessen unfehlbaren Wirkung sehr bewusst gewesen zu sein. Bei vorliegenden, rund 21 Minuten handelt es sich um den nahezu kompletten Score, es fehlt nur ein einziger Cue. Diese Kürze ist in Anbetracht seiner Entstehungszeit eher ungewöhnlich.
Mit einer anderen Ikone der Weltliteratur bekommt es Waxman 1938 zu tun: Ebenezer Scrooge aus A CHRISTMAS CAROL. In dieser soliden Verfilmung des Dickens-Dauerbrenners verkörpert Reginald Owen den misanthropischen Stimmungskiller. Dass sich sein soziales Umfeld von ihm aber nicht unterkriegen lässt, zeigt sich etwa in der festlichen Vorfreude von «Threadneedle Street / Fred And Bob», in das sich auch an mitteleuropäische Volksmusik erinnernde Klänge mischen. Scrooges grummliges Dreiton-Motiv spielt eine eher untergeordnete Rolle, während religiösen, sich zeitweise an Wagner orientierenden Aspekten und den übernatürlichen Elementen viel Platz eingeräumt wird. Col-legno-Streicher, schaurige Orgelklänge und wohl ein Ondes Martenot sorgen hier für gepflegten Grusel. Natürlich dürfen bekannte Weihnachtslieder wie «Hark! The Herald Angels Sing», «God Rest Ye Merry, Gentlemen» und «Silent Night» nicht fehlen, um für vertrautes, weihnächtliches Ambiente zu sorgen. Die in letzter Minute vorverlegte Veröffentlichung des Films sorgte für chaotische Zustände in der Nachproduktion, die auch Waxman betrafen, der innert 10 Tagen seine Arbeit zu erledigen hatte (und aufgrund dessen er später A CHRISTMAS CAROL als den schwierigsten Score seiner Laufbahn bezeichnete), was ohne Hilfe nicht zu bewältigen war. So erhielt er Unterstützung von MGM-Kollege David Snell, der nebst «Main/End Title» eine Handvoll kurzer Cues, basierend auf Waxmans Themen, beisteuerte. Dessen ungeachtet kann man vor Waxmans Leistung nur den Hut ziehen, ist dieser Score doch alles andere als Humbug.
1942 erfolgt mit WOMAN OF THE YEAR die Geburtsstunde des Traumpaars Spencer Tracy / Katharine Hepburn aus der Kategorie «sie kabbeln und sie lieben sich». Schwungvolle, gershwineske Klänge wechseln sich ab mit Humor und Romantik sowie Klassischem von Chopin und Wagner. Klanglich ist dieser Score, von dem nur noch rund die Hälfte vorhanden ist, in keinem guten Zustand mehr. Die Musik zur romantische Komödie LOVE ON THE RUN (1936) mit Joan Crawford und Clark Gable enthält als Hauptthema den von Gus Kahn getexteten Song «Gone», der sowohl orchestral als auch vokal den damals sehr populären Tanzfilmen ähnelt. Daneben gibt es Verschmitztes, wozu auch pfiffige Verarbeitungen von Mendelssohns Hochzeitsmarsch gehören, und mit dem allseits bekannten Boccherini-Menuett findet ein weiteres Stück aus dem Klassikrepertoire Verwendung. Im selben Jahr kommt es mit FURY nicht nur zu Fritz Langs Hollywood-Debüt, sondern auch zum ersten Zusammentreffen von Franz Waxman und Spencer Tracy. In «Opening Title Music» sind abermals kurz «Gone» und der Mendelssohn zu hören, ansonsten bestehen die noch präsentierbaren, rund sechseinhalb Minuten des ohnehin nicht allzu langen Scores im Wesentlichen aus grimmiger Dramatik und irrwitzigen Scherzi.
Ein beträchtlicher Zeitsprung nach vorne wird mit COUNT YOUR BLESSINGS vollzogen. Diese im Zweiten Weltkrieg spielende und mit Deborah Kerr, Rossano Brazzi und Maurice Chevalier international besetzte Dramödie von 1959 bekommt von Waxman ein hochromantisches Hauptthema verpasst, an dem er sich in der ersten Hälfte vielleicht ein wenig zu oft gütlich tut, aber der Komponist spielt daneben mehr als genug seiner Qualitäten aus, ersinnt feine Nebenthemen, pastorale und impressionistische Momente, Folklore, köstliche, teils verspielte, teils spöttische Militärmusik und Instrumental-Soli, die sich jeglicher emotionaler Regungen hingeben. Gelegentliche Verwandtschaften zu anderen seiner Scores aus jener Zeit wie PEYTON PLACE, THE SPIRIT OF ST. LOUIS oder HEMINGWAY’S ADVENTURES OF A YOUNG MAN sind nicht von der Hand zu weisen, tun dem Ganzen aber keinen Abbruch. Angesichts der schieren Fülle von Stimmungen und liebevollen Details muss man diese Musik einfach ins Herz schliessen.
Mit SUSPICION sind wir zurück im Jahre 1941. Die wohlhabende, aber naive Lina (Joan Fontaine) heiratet den notorisch in Geldnot steckenden Johnnie (Cary Grant). Ganz nach der Tagline des Films «Will he kiss me or kill me?» häufen sich bei der immer paranoider werdenen Lina die Zweifel darüber, ob Johnnie sie aus Liebe oder aus finanziellen Gründen zur Frau genommen hat. Vom diesem zweiten von insgesamt vier Waxman-Scores für Alfred Hitchcock sind lediglich 18 Minuten der Nachwelt erhalten geblieben. Sie gestatten aber immerhin einen Schnelldurchlauf durch Linas Gemütslagen, die sowohl konkret beschrieben werden als auch mit lautmalerischen Naturbeschreibungen einhergehen. Im idyllischem Vogelgezwitscher des «Main Title» etwa, oder im ahnungsvollen Meeresrauschen in «Looking For Johnnie». Höhepunkt bildet das nackenhaarsträubende «Too Fast», das vielen auch durch seine unerfindliche Wiederverwendung für die «Ski Run»-Sequenz in SPELLBOUND bekannt sein dürfte.
Horrorspezialist Tod Browning (DRACULA, FREAKS) schuf 1936 mit THE DEVIL-DOLL einen bizarren Genrebeitrag, wo ein auch mal in Frauenkleidern agierender Lionel Barrymore zu bewundern ist, der sich an den drei Typen, die ihm einen Bankraub anhängten, grausam rächt, indem er sie ‒ das Werk eines irren Wissenschaftlers fortführend ‒ auf einen Bruchteil ihrer Grösse schrumpfen lassen will. Klingt nach einem idealen Sujet für Waxman und ist es auch. Zwar verbreiten die exotische Romantik des Hauptthemas, Musette- und Kaffeehaus-Walzer alles andere als Angst und Schrecken, aber die 19 Minuten Musik, die einen guten Teil des Scores ausmachen, enthalten selbstverständlich auch viel Unheimliches, das durch Vibraphon, Celesta oder besondere Spieltechniken der Streicher hervorgerufen wird. Ausserdem greift Waxman auf den wirkungsvollen «Creation»-Herzschlag aus THE BRIDE OF FRANKENSTEIN zurück.
Wie der Titel andeutet, handelt es sich bei KING OF THE ROARING 20’S ‒ THE STORY OF ARNOLD ROTHSTEIN (1961) um die Biografie eines ranghohen Mitglieds der jüdischen Mafia, der sogenannten «Kosher Nostra», der Kritiker vorwerfen, mit David Janssen ziemlich fehlbesetzt zu sein. Keine Fehlbesetzung hingegen ist Franz Waxman, der als Jazz-affiner Komponist ein Heimspiel hat mit dem Konzept eines Scores, wo die Grenzen zwischen Source- und deskriptiver Musik fliessend sind. Mit Ausnahmen wie eines Charleston klammert sich Waxman jedoch nicht an die 1920er-Jahre, sondern verwendet modernere Formen des Jazz und Blues, weil da natürlich mehr Ausdrucksmöglichkeiten möglich sind. Für sentimentalere Momente kommt nicht nur ein Kaffeewalzer aus HOTEL BERLIN (1945) erneut zum Einsatz, der nebst Bearbeitung für Klavier und Streicher zwischen verschiedenen Registern und Solisten herumgereicht wird, sondern beispielsweise auch ein Cello voller jüdischer Schwermut.
Die jahrelange Arbeit, die in die Realisierung dieses Sets investiert wurde, kann man nur ganz herzlich verdanken, und allen, die darin involviert waren, ist ein dickes Lob auszusprechen. Insbesondere dem Team, das für die Klangrestauration verantwortlich war, denn wie sich gerade die Aufnahmen aus den Dreissigerjahren diesbezüglich präsentieren, ist im Allgemeinen schon ganz erstaunlich. Wenn es überhaupt ein Haar in der Suppe gibt, dann ist es für mich Waxmans MGM-Fanfare, die einige Male zu vernehmen ist, da Filme dieses Studios den Löwenanteil vorliegender Sammlung ausmachen. Leider darf Leo nie mittun, wodurch die Fanfare nicht ganz komplett scheint, da der Komponist dessen Gebrüll zweifellos in die Gestaltung selbiger mit einbezogen hatte. Aber das fällt kaum ins Gewicht angesichts einer Veröffentlichung, bei der die enorme Vielseitigkeit Waxmans zu bewundern ist, und die für jede gut sortierte Filmmusiksammlung mit Schwerpunkt Golden Age absolut unverzichtbar ist.
Andi, 30.1.2018
CAPTAINS COURAGEOUS ‒ THE FRANZ WAXMAN COLLECTION Franz Waxman Intrada ISC 390 4:03:01 / 143 Tracks