Wenn man eine Filmmusik anhand der Anzahl ihrer Veröffentlichungen bewertet, dann nimmt Ben Hur eine Spitzenposition ein. Zur Erinnerung seien hier die wichtigsten nochmals aufgelistet: 1959 erschien das erste Album mit Highlights, eingespielt vom Symphony Orchestra/Singers of the Roman Basilicas unter Carlo Savina, gefolgt von einer LP mit identischem Programm, jedoch ohne Chor, mit dem Frankenland State Symphony Orchestra unter Erich Kloss, veröffentlicht auf MGM’s Budged-Label «Lion»; das gleiche Ensemble produzierte dann 1960 mit «More Music from Ben Hur» noch einen dritten Longplayer. Insbesondere das erste Album erwies sich als Dauerbrenner und erhielt zahllose Wiederveröffentlichungen auf LP und CD.
1977 spielte der Komponist für Decca eine Selektion seiner Musik neu ein, in einer bestechenden Interpretation des National Philharmonic Orchestra and Chorus. Diese empfehlenswerte Aufnahme wurde ebenfalls mehrmals auf CD wiederveröffentlicht. 1991 fasste Sony das erste und das dritte Album ‒ aufgestockt mit ein paar Tracks der Filmeinspielung ‒ in einer Doppel-CD zusammen, und 1992 präsentierte die «Miklós Rózsa Society» zum 85. Geburtstag des Komponisten ein 3-LP-Set, das eine LP-Seite Quo Vadis widmete und den ganzen Rest Ben Hur. Damit kam man erstmals in den längeren Genuss des Filmoriginals, wenn auch in mässiger Klangqualität.
1995 veröffentlichte das Bootleg-Label Aldebaran auf 3 CDs den kompletten Score plus etliche Alternates, bevor Rhino im Jahr darauf mit seiner liebevoll aufgemachten Hardcover-Longbox, begleitet von ausführlichen Liner Notes, den Score auf 2 CDs in seiner Gänze erstmals offiziell und in bis dato bester Klangqualität präsentierend, ein Produkt auf den Markt brachte, das im Filmmusik-Segment neue Massstäbe setzte.
Dass dieser Massstab nicht ewig halten würde, konnte damals noch niemand ahnen, denn 1996 sah die Filmmusiklandschaft noch ein wenig anders aus als heute. Mit dem Aufkommen der Speziallabels und ihrer auf Perfektion ausgerichteten Veröffentlichungen sind indes auch die Ansprüche und Erwartungen der Sammler gestiegen, und so dürfte es niemanden überraschen, das sich FSM dem Rózsa-Klassiker jetzt mit satten fünf CDs abdeckt.
Zu Lukas Kendalls Missionen gehörte es, das umfangreiche MGM-Schaffen von Rózsa so gut wie möglich abzudecken, und mit der Veröffentlichung des diesbezüglich letzten grossen (und bedeutendsten) Brockens hinterlässt das nun bald inexistente Label zweifelsohne eines seiner wichtigsten Vermächtnisse. Mit dem Ben-Hur-Set erhält man nicht nur den kompletten Score, sondern auch nahezu alle Alternates sowie die drei LP-Einspielungen; hier lockt natürlich insbesondere das rare, nun erstmals auf CD gepresste Lion-Album. Dass der Klang gegenüber der Rhino-Edition nochmals aufgefrischt wurde, versteht sich von selbst.
Ben Hur bedeutet den Kulminationspunkt des alten Studiosystems Hollywoods, des sogenannten Golden Age, das bei dessen Erscheinen ‒nicht zuletzt wegen des Fernsehens ‒ bereits dem Untergang geweiht war und in einem seiner letzten Aufbäumen den Monumentalfilm schlechthin aus dem Boden stampfte. Die Academy honorierte den immensen Aufwand mit 11 Oscars, womit der Streifen jahrzehntelang alleiniger Rekordhalter blieb. Eines der Goldmännchen ging an Miklós Rózsa, der damit ein Trio in seiner Vitrine stehen hatte.
Film und Musik im Detail vorzustellen, hiesse im Fall von Ben Hur wohl Eulen nach Athen tragen, denn jeder ernsthafte Filmmusikliebhaber sollte diesen Score, der zu den meistdiskutierten und -analysierten gehört, sowie die dazugehörigen Bilder kennen. Die zu Zeiten Jesus Christus in Judäa spielende Geschichte handelt vom jüdischen Prinzen Ben Hur und dessen römischen Jugendfreund Messala, der zum erbitterten Gegener wird, nachdem er Ben Hur nach einem vermeindlichen Anschlag auf den neuen römischen Statthalter Jerusalems als Sklave auf die Galeeren schickt und Mutter und Schwester in den Kerker steckt. Die behandelten Themen sind so alt wie die Menschheit selbst und doch zeitlos: Familie, Freundschaft, Machtmissbrauch, Vertrauensbruch, Rachegelüste als Triebfeder zum Überleben, Leiden, Glauben, Vergebung und Erlösung durch göttliche Liebe. Film und Musik bilden solch eine Einheit, dass das eine ohne das andere fast nicht denkbar ist, aber da Rózsa dem Handlungsverlauf penibel folgt, ist der Score dank seinem logischen dramatischen Aufbau, der sich kaum eine emotionale Auszeit gönnt, trotz beträchtlicher Länge auch isoliert durchgehend ein Hochgenuss.
Der Score ist gespickt mit Fanfaren, spektakulären Märschen, kraftvollen Themen für Ben Hur und Messala, Musik von tiefer, sich vor allem durch Chor und Orgel mitteilender Spiritualität für Jesus Christus, drei gleichberechtigten Themen im gefühlvollen Bereich (Friendship, Love Theme, Mothers Love), eindringlichen dramatischen Passagen wie die glühend-flirrende Untermalung eines Marsches durch die Wüste, eine ausgedehnte Seeschlacht, die von den orchestral äusserst eindrucksvoll umgesetzten, dumpfen Ruderschlägen der Galeerensklaven bis zum eigentlichen Gefecht ‒ dessen furiose Klanguntermalung noch immer mit zum Besten gehört, was die Filmmusik im Action-Bereich je hervorgebracht hat ‒ unvergesslich bleibt, die kurze, jedoch unter die Haut gehende Sterbeszene Messalas oder der schwere, schmerzgebeugte Kreuzgang von Jesus Christus.
Trotz etwas längerer Laufzeit ist der Score bei Rhino nicht ganz vollständig, dies wegen teilweiser Verwendung von Alternates und ein oder zwei Doppelungen. FSM hat dies korrigiert und präsentiert nun jeden verfügbaren Schnipsel. Das Label beschreibt seine komplette Version als «idealisiert», aber ob diese jetzt hundertprozentig der Filmversion entspricht, vermag ich nicht zu beurteilen. «Angefressenere» als ich sollen dies überprüfen. Dass der Klang perfektioniert wurde, ist selbstverständlich, sogar die vom Komponisten vorgängig in Rom aufgenommenen Stücke ‒ hauptsächlich Märsche und Fanfaren ‒ die der Qualität der Hollywood-Sessions stets hinterher hinkten, klingen so gut wie nie zuvor. Den einzigen Makel im akustischen Reinheft betrifft mit Parade of the Charioteersausgerechnet einen wichtigen Track; es handelt sich hierbei aber wenigstens um die Erstveröffentlichung der uneditierten Fassung.
Auch die drei LP-Programme erstrahlen in neuem klanglichen Glanz. Wie erwähnt, ergibt sich hier für unzählige Rózsa-Fans zum ersten Mal die Gelegenheit, mit dem raren Lion-Album Bekanntschaft zu schliessen. Obwohl es sich inhaltlich mit der Savina-Version deckt, lassen sich doch da und dort ‒ nebst dem Fehlen des Chors ‒ interpretatorische Unterschiede feststellen. Dieses Album, wie auch das nachfolgende «More Music from Ben Hur», war und bleibt Gegenstand von hartnäckigen Spekulationen in bezug auf das Dirigat. War es wirklich Erich Kloss, der die Nürnberger leitete, gab es diesen Kloss überhaupt oder war er nur ein Pseudonym von Rózsa, der als Mitglied der Musikergewerkschaft deren Verbot, nichtamerikanische Orchester selbst zu dirigieren (was der Grund dafür war, dass Carlo Savina das erste Album einspielte) umgehen wollte? Nun, Erich Kloss existierte wirklich, aber 1981 gestand Rózsa in einem Interview, dass er zumindest für «More Music» in der Tat am Dirigentenpult stand.
Zu guter Letzt sind noch die Bonus-Stücke und Alternates zu erwähnen. Über Sinn oder Unsinn, solche mitzuveröffentlichen, wird ja seit jeher diskutiert, aber wenn schon, denn schon, hat man sich bei FSM gedacht, und nur die leidenschaftlichsten Rózsa-Komplettisten werden es Kendall wohl verdanken. Über 100 Minuten an Material ist da zusammengekommen, und wer damit immer noch nicht genug hat, der muss die letzten Überbleibsel bei Rhino zusammenkratzen (deren Inhalt FSM dann doch nicht ganz restlos wiederveröffentlicht hat). Ich möchte hier nur zwei der interessanteren Beispiele herauspicken: Harun al Rozsad, ein unbenutzter exotischer Tanz, wohl vorgesehen für eine Szene im Zelt von Scheich Ilderim, und eine Demoversion des Liebesthemas mit Altflöte und Harfe, die als Vorlage für Paul Francis Webster gedient haben mag, der auch tatsächlich einen Text dazu schrieb. Ob es schade ist, dass dieser Song nie aufgenommen wurde, mag jeder für sich selbst entscheiden (die Lyrics sind in den leider wiederum nur im Netz bereitgestellten, erweiterten Liner Notes zu finden).
Es ist debattierbar, ob Ben Hur der beste Filmscore aller Zeiten ist (diesen Rang macht ihm allein nur schon mit El Cid ein weiterer Rózsa streitig), unbestritten ist es jedoch ein Titel, für den eine Veröffentlichung im Umfang dieses FSM-Sets mehr als gerechtfertigt ist. Wer nicht so tief in die Tasche greifen will und auf alles andere als die pure Filmfassung pfeift, der ist mit der Rhino-Edition nach wie vor sehr gut bedient. Und wer sich mit den Höhepunkten begnügen möchte, dem sei die 1977er-Neuaufnahme ans Herz gelegt. Aber im Grunde genommen kann man bei diesem Score ‒ egal zu welcher Version man auch greift ‒ nichts falsch machen.
Ob bei Ben Hur veröffentlichungstechnisch jetzt endgültig das letzte Wort gesprochen ist, kann man nie wissen, besonders heutzutage, wo jederzeit alles möglich ist. So schwer vorstellbar es auch ist, dass diese limitierte Edition noch getoppt werden kann, wissen wir mittlerweile aus Erfahrung: hohe Massstäbe hatten früher länger Gültigkeit.
Andi, 8.3.2012
BEN HUR Miklós Rózsa FSM Vol. 15, No. 1 366:38 Min. 164 Tracks Limitiert auf 2000 Stück