Review aus The Film Music Journal No. 29, 2002
Dem Score zu ANTHONY ADVERSE (1936) kommt in Korngolds filmmusikalischem Schaffen in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Zum einen handelt es sich dabei um die quantitativ umfangreichste Partitur, die bis dato für einen Tonfilm geschrieben worden war – allein die ersten 20 Minuten des zweieinhalbstündigen Epos werden von einer kontinuierlich sich entwickelnden, breit dahinströmenden Musik begleitet, in der alle wichtigen Motive der Komposition ausgebreitet werden. Desweiteren experimentierte Korngold bei diesem seinem zweiten Film für die Warner Brothers nach CAPTAIN BLOOD (1935) erstmals mit seiner ihm eigenen Methode, die Tonhöhe der Musik dicht unter die Stimmlage der Akteure zu setzen, um dadurch gesprochenes Wort und Musik aufs engste miteinander zu verzahnen, ja um so sogar den Eindruck einer gesprochenen Opernarie entstehen zu lassen. Im März 1937 erhielt Korngold für seine ausladende Arbeit zu ANTHONY ADVERSE dann seinen ersten Oscar, beabsichtigte jedoch vorerst nicht, in Amerika zu bleiben und einen Vertrag mit dem Warner Studio auf längere Zeit einzugehen, sondern kehrte voller Enthusiasmus zuerst einmal nach Österreich zurück, um dort die Orchestrierung seiner schon fast fertigen Oper «Die Kathrin» zu beenden. Die endgültige Emigration in die USA sollte für den ahnungslosen Korngold erst ein paar Monate später erfolgen.
ANTHONY ADVERSE entstand nach einem Romanbestseller der damaligen Zeit und ist während der Napoleonischen Ära angesiedelt. Die weit verschlungene Handlung erstreckt sich über mehrere Kontinente, von Europa über Afrika bis nach Südamerika, und erzählt unter der Regie von Mervyn LeRoy etwas arg ausschweifend und umständlich die Geschichte des Waisenjungen Anthony, der nach dem Tod 34 CD-REZENSIONEN seiner Mutter bei seinem Großvater, einem schottischen Kaufmann, aufwächst, ohne daß beide von der verwandtschaftlichen Beziehung wissen. Der erwachsene Anthony, gespielt von Fredric March, führt ein unstetes Abenteurerleben, trennt sich zum Schluß gar von seiner Braut, der Opernsängerin Angela (Olivia de Havilland), um fortan mit seinem kleinen Sohn nach Amerika zu gehen. Der melodramatisch hochgeputschte Stoff bot Korngold natürlich Material in Hülle und Fülle für seinen farbenprächtig schillernden, als Oper ohne Gesang aufgemachten Score, und so umfaßt die ganze Partitur insgesamt 18 Themen, die die beiden Autoren William Darby und Jack DuBois in ihrem höchst lesens- und anschaffenswerten Buch «American Film Music» ausführlich und im Detail seziert haben. Ab und zu wird der Film unter dem Titel «Ein rastloses Leben» im deutschen Fernsehen gezeigt, und man sollte davor am besten ein kleines Schildchen mit dem Titel ‹cave canem› aufstellen, denn die so sorgfältig durchdachte Musikdramaturgie Korngolds geht dabei vollständig flöten, da alle Partien mit Dialog (und sogar noch ein paar ohne Dialog) auf Grund fehlender Originalmusikbänder schnurstracks mit biederster Archivmusik unterlegt wurden.
Abgesehen von der vom ZDF 1992 in Auftrag gegebenen fürchterlichen Synchronisation, hat man damit dem Komponisten Korngold einen nicht wiedergutzumachenden Bärendienst erwiesen. Wie oberflächlich, schlampig und schludrig deutsche Synchronanstalten arbeiten, kann man direkt an dieser nagelneuen Tsunami-CD ablesen, die den fast vollständigen Score in der Originaleinspielung auf Tonträger vorlegt. Das heißt folglich, die reinen Musik Masterbänder des Original-Soundtracks existieren also doch, obwohl uns Fernseh- und Synchronanstalten die ganze Zeit vom Gegenteil überzeugen wollen. Leider steht es auch bei Tsunami nicht bei allen Dingen zum Besten, und das Tracklisting auf der Coverrückseite ist schon eine ungeheure Frechheit. Da werden insgesamt 42 Tracks angegeben, während sich auf der CD selbst dann nur 30 befinden. Offenbar hatten die Verantwortlichen in einigen Fällen zunächst vor, die kürzeren Musikstücke für sich stehen zu lassen und dann erst später zu einem längeren Track zusammengefaßt. Dadurch ist natürlich ein absolutes Tohuwabohu entstanden, das einen Verweis auf einzelne Tracktitel vollkommen überflüssig macht und ad absurdum führt, da sonst die Verwirrung nur noch mehr zunehmen würde. So nennt sich etwa Titel 10 Death of Dennis, beschreibt hingegen, da wir in der Handlung ja schon viel weiter vorangeschritten sind, Anthonys Ankunft im Kloster!
Die jetzt vorliegende Originaleinspielung legt die Schwächen der von John Scott dirigierten Neuinterpretation, die 1991 auf einer Varese-CD erschien, umso deutlicher bloß. Obwohl mit digitalem Klang ausgestattet, wirkt die Scott Version recht kraftlos, schlaff und tempoarm, während das von Korngold selbst geleitete Original vor Vitalität, Frische und funkelnder Energie nur so sprüht. Die Tonqualität ist dem Alter der Bänder entsprechend zwar noch ganz in Ordnung, doch stören die mulmig verzerrten Bässe schon ab und an. Vielleicht wäre ein natürlicheres Klangbild mit einem stärkeren Rauschanteil dem Ganzen da doch förderlicher gewesen. Bei ANTHONY ADVERSE arbeitet Korngold weitaus weniger mit den von den Errol Flynn-Piratenepen her bekannten blechbestückten heroischen Fanfaren (obwohl auch diese in einigen wenigen Momenten wie der Parade in Leghorn, dem Lottery March, erscheinen), sondern sorgt für ein irisierendes Klangspektrum in schwelgerischer Instrumentierung, jongliert unglaublich brillant mit seinem ganzen Arsenal von kunstvoll verwobenen Leitmotiven, die nicht nur für bestimmte Personen einstehen, sondern auch Stimmungen oder Absichten repräsentieren können, so daß sich die ganze Partitur trotz der detaillierten musikalischen Illustration von Szenenabläufen in einem endlosen, großbogig gedachten melodischen Fluß entfalten kann.
Kein anderer Komponist aus Hollywoods Glanzzeit beherrschte diese Technik so genial wie Korngold, und auf dieser Tsunami-CD kann dies hervorragend nachverfolgt werden. Zum Schluß noch ein Hinweis auf die berühmten Querverbindungen, die zwischen Korngolds Filmmusiken und seinen Konzertwerken bestehen. Gerade aus ANTHONY ADVERSE hat Korngold, der für sich während des Zweiten Weltkriegs ein Gelübde abgelegt hatte, bis Kriegsende keine Konzertmusik mehr zu schreiben, thematisches Material in insgesamt drei Spätwerken nach dem Krieg erneut aufgegriffen, und zwar jeweils in den langsamen Sätzen: In der Romance des Violinkonzerts von 1947 taucht das Anthony-Angela-Liebesthema als tragendes Element wieder auf, im Lento Religioso-Satz der Sinfonischen Serenade (1948) das choralartige Thema für den Brother Francois, mit dem sich Anthony in Kuba befreundet, im Adagio der großen Sinfonie von 1952 gar ein für die Dschungelszenen in Afrika verwendetes, geisterhaft chromatisch absteigendes Thema.
All dies zeigt, daß es für Korngold keine Unterschiede zwischen Filmmusik und absoluter Musik gab -sein üppiger, schon früh ausgeprägter spätromantischer Stil ist quer durch alle musikalischen Genres und über sein ganzes Schaffen hinweg immer wieder unverkennbar.
Stefan | 2002
ANTHONY ADVERSE
Erich Wolfgang Korngold
Tsunami
79:40 | 30 Tracks