Carlo Rustichelli Digitmovies CDDM 123 73:20 Min. 36 Tracks
Der Film
Wie viele andere italienische Monumentalfilme aus der Zeit um 1960 herum krankt auch Annibale von 1959 – ein Epos über die bekannten Heldentaten des karthagischen Feldherrn – an einer spannungsarmen Inszenierung, an den üblichen Pappmaché-Dekors und recht hölzernen Darstellern. Und doch umweht das Epos zumindest unter Cinéasten eine gewisse Aura durch die Beteiligung des ursprünglich aus Österreich stammenden jüdischen Regisseurs Edgar G. Ulmer, der inzwischen als visueller Stilist des B-Kinos während Hollywoods großer Studio-Ära der 30er bis 50er Jahre gefeiert wird mit einem ganz besonderen Gespür für die Verwendung von Licht, Schatten und Architektur.
Allerdings war seine große Zeit Ende der 50er Jahre bereits vorbei, und der Versuch, in Italien seine Karriere fortzusetzen, war zum Scheitern verurteilt. Bei Annibale mit Hollywood-Star Victor Mature in der Hauptrolle wurde ihm mit Carlo Ludovico Bragaglia, einem alten Cinecittà-Routinier, zudem ein Co-Regisseur an die Seite gestellt, der schlußendlich auch allein verantwortlich für die in Europa gezeigte Fassung des Films zeichnete. Angesichts der chaotischen Produktionsverhältnisse und Dreharbeiten ist bis heute nicht einmal geklärt, welche Szenen wohl von welchem Regisseur stammen. Ulmers Kommentar dazu zwei Jahre nach Uraufführung des Films: «In Bragaglias Version gibt es von mir nur einige Kampfeinstellungen.»
Die Musik
Viele der italienischen Peplum-Scores leiden unter dem Problem der kompositorischen Mittelmäßigkeit und bieten meist zuviel hohlen Spannungsleerlauf oder zu holprigen Blechkrawall, um abseits der Bilder bestehen zu können. Dies ist ganz und gar nicht der Fall bei Carlo Rustichellis leidenschaftlich pulsierender Annibale-Partitur, der es dank stark verdichteter motivisch-thematischer Arbeit auch über eine lange Spielzeit von mehr als 60 Minuten gelingt, echte musikalische Spannungsbögen aufrechtzuerhalten. Rustichelli kommt hierbei seine Erfahrung als Operndirigent und auch Opernkomponist in den frühen 40er Jahren stark zugute, denn der Score wirkt durch seine pathoserfüllten, raumgreifenden Gesten und seine dramatische Wucht oft geradezu opernhaft melodramatisch aufgeladen.
Bereits um 1950 herum hatte Rustichelli einige Historien- und Kostümfilme wie etwa Il leone di Amalfi vertont, allerdings war Annibale sein Einstieg ins Genre des Antikfilms, das erst ab 1957 durch den ersten Hercules-Beitrag von Pietro Francisci in Italien eine ungewöhnliche Renaissance erfuhr. In den folgenden Jahren bis etwa 1965 steuerte Rustichell rund 30 weitere Scores für die Peplum-Serie bei, die in immer kürzerer Zeit fertiggesteltl werden mußten. Aufgrund des Zeitmangels wurden bei manchen dieser spottbillig heruntergekurbelten B- und C-Sandalenfilme dann interessanterweise auch auf einige bereits für Annibale komponierte Tracks in bekannter Library-Manier zurückgegriffen – so etwa beim 1963 entstandenen Coriolano.
Bei Annibale hat man des öfteren sogar den Eindruck, dass es im Grunde die Musik alleine ist, die den Filmszenen überhaupt etwas Leben einzuhauchen versteht. Schon der Main Title setzt die Zeichen mit einer voranpreschenden Introduktion des rhythmisch agilen und energiegeladenen Hauptthemas in voller Orchesterbesetzung, die den Hörer regelrecht mitzureißen weiß. Für Hannibals Überquerung der Alpen mit seinen Elefanten (Track 2) wird dieses Thema verlangsamt und gedehnt, auch mit Chor angereichert, um so die physische Anstrengung, mit der sich Menschen und Elefanten durch Schnee und Eis kämpfen, musikalisch wiederzugeben. Überhaupt ist das von Rustichelli ersonnene Hauptmotiv sehr geschmeidig und wandlungsfähig, so dass es in den unterschiedlichsten Einkleidungen im weiteren Verlauf des Scores erscheinen kann und doch stets zu fesseln weiß.
Hannibals Liebesbeziehung zur römischen Patriziertochter Sylvia (gespielt von Rita Gam) wird durch ein pastoral angelegtes elegisches Liebesthema charakterisiert, das zunächst vom etwas überraschend eingesetzten Solo-Saxophon (Track 6) intoniert wird, in späteren Stücken auch von der aparten Solo-Violine, der sich dann schmachtende Streicher als Begleitung anschließen.
Ein besonderes Highlight dieser äußerst gelungenen Vertonung stellt die sich über rund 10 Minuten (von Track 22 bis 27) erstreckende Untermalung der berühmten Schlacht von Cannae dar, bei der Hannibal letztlich einen Sieg über die römischen Truppen errang. Eingeleitet wird die lange Schlachtsequenz von einem zupackenden römischen Triumphmarsch, einem echten «Marcia Romana» wie er eines Rózsa würdig wäre, während in den darauf folgenden Cues immer neue blech- und schlagwerkbetonte und mit schrillen Fanfaren durchsetzte Orchesterattacken wellenförmig heranrauschen und wieder abklingen. Das ist Schlachtenmusik vom Feinsten, bei der stets neue Varianten der bereits bekannten Motive aufgefahren werden.
Zuzüglich zu den knapp 60 Minuten mit dem kompletten Score gibt es am Schluß der CD auch noch 17 Minuten mit im Film nicht verwendeten Tracks, darunter eine im Mittelteil geradezu nach Bernstein-Western klingende Alternativ-Fassung der Vorspannmusik sowie eine wunderbar spritzig-komödiantische Version derselben, die man möglicherweise einfach noch spaßeshalber am Ende der Recording Sessions eingespielt hatte und direkt aus einer Totò-Komödie stammen könnte. Auch einen herrlich orientalisch geprägten Tanz gibt es bei diesen Bonus-Stücken zu hören, dessen melodisches Material äußerst geschickt vom Liebesthema abgeleitet wurde.
Insgesamt handelt es sich um eine vortreflfich instrumentierte und melodisch einfallsreiche Partitur, die mit derartig glutvoller Leidenschaft nur von einem absoluten Vollblutmusiker wie Rustichelli komponiert werden konnte.
Die CD-Produktion
Da ich selbst am Zustandekommen dieser CD nicht ganz unschuldig war, hier noch ein paar Anmerkungen zur Produktion: Leider sind die originalen Musikbänder von Annibale, die sich im Besitz des damaligen Musikverlags Nazionalmusic befanden, schon längst vernichtet. Überlebt hat in Rom einzig und allein eine Kopie der dritten oder gar vierten Generation des ursprünglich wohl etwa 110 Minuten langen Tonbandes mit den kompletten Recording Sessions. Durch einen spanischen Sammler gelangte ich jedoch vor rund zwei Jahren in den Besitz eines CDR-Abzugs der A-Seite dieses Tonbands, d.h. also der ersten Hälfte der Recording Sessions von 1959. Da die Stücke auf dieser Kopie deutlich besser und präsenter klingen als die um Einges dumpferen und mit leichten Störungen behafteten aus Rom, ist davon auszugehen, dass wir hier um eine oder gar zwei Generationen näher am Original-Mastertape liegen. Durch diese zweite Kopie wurde die jetzige CD-Veröffentlichung auf Digitmovies im Grunde erst möglich.
Leider konnten trotz intensiver Suche quer durch die europäische Sammlerszene die Stücke von der B-Seite des Tonbands und damit die zweite Hälfte der originalen Sessions nicht mehr in derselben Qualität aufgefunden werden, so dass die fehlenden Tracks von der qualitativ schlechteren Rom-Kopie abgenommen werden mußten. Dies erklärt die zum Teil erheblichen klanglichen Schwankungen bei den einzelnen Tracks auf der CD. Man sollte sich aber stets vor Augen halten, dass diese herausragende italienische Golden Age-Musik auf anderem Wege niemals mehr hätte publiziert werden können.
Ein weiterer kleiner Schwachpunkt der CD ist, dass die einzelnen Tracks keine Betitelungen erfahren haben, was anhand des Films eigentlich leicht möglich gewesen wäre. Ob die Argumentation von Digitmovies-Produzent Claudio Fuiano, man dürfe bei den rechtlich Nazionalmusic (bzw. heutzutage Beat Records) gehörenden Scores keine eigenen Tracktitel hinzuerfinden, wirklich zutrifft, möchte ich mal im Raume stehen lassen.
Stefan 11.3.2009