Gleich zweimal spielte Humphrey Bogart 1955 den Kopf eines Trios flüchtiger Sträflinge. Doch gegensätzlicher könnten die beiden Filme nicht sein. Zum einen ist da der Wohlfühl-Weihnachtsfilm WE’RE NO ANGELS, zum anderen der knallharte Thriller THE DESPERATE HOURS, wo sich Bogey mit zwei Kumpanen (darunter sein jüngerer Bruder) im Haus einer Familie verschanzt, um auf Geld zu warten, das ihm seine Liebste schicken soll. Dabei liefert er sich ein fesselndes Katz- und Mausspiel mit dem Oberhaupt der Familie, verkörpert von Fredric March.
Regisseur William Wyler hatte zwar keinen eigentlichen Stammkomponisten, aber viele seiner Filme wurden mit unvergesslichen Musiken ausgestattet; erinnert sei hier nur an THE BEST YEARS OF OUR LIFES, THE BIG COUNTRY und BEN-HUR. THE DESPERATE HOURS tanzt diesbezüglich deshalb aus der Reihe, weil dafür kein Komponist mit hohem Marktwert verpflichtet wurde, sondern mit Gail Kubik zwar ein Mann mit grossem musikalischem Fachwissen, das er sich an verschiedenen amerikanischen Bildungsstätten angeeignet hatte, der aber in Hollywood zumindest im Spielfilmbereich über wenig Erfahrung verfügte.
Und das wurde ihm denn auch zum Verhängnis, da sein Score mit Ausnahme des «Prelude» praktisch unbenutzt blieb; wahrscheinlich nicht, weil er für schlecht empfunden wurde ‒ was er keinesfalls ist ‒ sondern weil er sich mit seiner grimmigen und verstörenden Kompromisslosigkeit derart weit von der damaligen Norm Hollywoods entfernt, dass die Produzenten kalte Füsse bekamen. Was man ihnen nicht einmal gross verdenken kann, da die Musik den Film zumindest stellenweise vielleicht tatsächlich überpowert hätte.
Dass wir heute die Musik zu THE DESPERATE HOURS trotzdem mehr oder weniger in ihrer Gänze geniessen können, verdanken wir dem Umstand, dass Kubik sie zum 25-minütigen Konzertwerk SCENARIO FOR ORCHESTRA umgestaltete, das er in einer 1957 aufgenommenen Live-Aufführung für die Nachwelt festhielt. Und das völlig zu Recht, da die Musik eigenständig genug ist, um auch ohne Bilder als packendes Hörerlebnis zu überzeugen. Sie verfügt über keine Themen, höchstens wiederkehrende Tonfolgen, bietet abgesehen vom getragenen Finale, wo sich noch vom Schock geprägte Erleichterung Luft verschafft, keine emotionalen Anhaltspunkte, das ganze Orchester verwandelt sich praktisch in eine riesige Perkussion-Sektion, die, wie Kubik es beschreibt, «völlig unerwartete Klänge» produziert. Eine sehr moderne Musik also, die aber trotz ihres experimentellen Charakters eine erkennbare, dramatische Struktur aufweist und daher nicht überfordert.
Nach dieser Enttäuschung war für Kubik das Kino jahrelang kein Thema mehr, 1962 aber kehrte er für das Robert-Stevens-Drama I THANK A FOOL mit Susan Hayward und Peter Finch nochmals zurück, nur um in einem Déjà-vu-Erlebnis mitansehen zu müssen, wie seine Musik erneut verschmäht und durch einen Score von Ron Goodwin ersetzt wurde. Und wieder hatte Kubik die Weitsicht, seine Komposition nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen, sondern ebenfalls für ein Konzertwerk zu verwenden. Mit SCENES FOR ORCHESTRA wählte er einen ähnlichen Titel wie für THE DESPERATE HOURS, und zumindest beim Hauptthema und einigen weiteren Sequenzen stehen die beiden Stücke in engem verwandtschaftlichem Verhältnis. Aber ansonsten ist SCENES FOR ORCHESTRA mit seinen elegischen Streichern und Waldhörnern sowie Holzbläsern, die mal an Herrmann, mal an Waxman erinnern, dann doch konventioneller ausgefallen als der Vorgänger. Kein geringerer Klangkörper als das London Symphony Orchestra unter der Leitung des Komponisten stand für vorliegende Einspielung zur Verfügung.
Noch deutlich konventioneller gab sich Kubik 1942 mit STEWBALL: FOUR VARIATIONS FOR BAND, aber schon bei diesem Stück für Blaskapelle zeigt sich zeitweise sein Drang, mit dem Traditionellen zu brechen. In ihren rustikalen und exaltierten Momenten könnte man sich diese Musik mühelos auch für einen Western vorstellen, daneben sind getragene Passagen und bigband-artige Momente Bestandteile der unterhaltsamen und abwechslungsreichen Komposition, bei welcher sämtliche Register ihr Können unter Beweis stellen dürfen. Veröffentlichungen wie diese lassen einen rätseln, warum offensichtlich so talentierte Komponisten wie Gail Kubik heute kaum jemandem noch ein Begriff sind. Denn Kubik, der nebst seinem zugegebenermassen schmalen Werk für Film und Fernsehen immerhin zwei Violinkonzerte, drei Sinfonien, zwei Opern und mehrere Kammermusik-Stücke verfasste, hinterlässt alleine schon mit SCENARIO FOR ORCHESTRA einen blendenden Eindruck, der Lust darauf macht, mehr von ihm zu entdecken. Und alle, die offen sind für Musik, die neue Wege sucht, werden ebenso empfinden. Ein grosses Dankeschön also an Bruce Kimmel für diese tolle CD, bei der als einzigem Kritikpunkt ‒ wie so oft bei Kritzerland ‒ die Liner-Notes nicht allzu ausführlich ausgefallen sind.
Andi, 2.2.2020
SCENES FOR ORCHESTRA / SCENARIO FOR ORCHESTRA / STEWBALL
Gail Kubik
Kritzerland KR-200380
73 Min.
3 Tracks
Limitiert auf 500 Stk.