Vor 18 Jahren hat mich ein Film geschockt, weil er in einem Masse erschütternd realistisch und kalt war, wie ich es zuvor noch nicht im Kino erlebt habe. Ein Gefühl der Ratlosigkeit und kompletten Leere hinterliess. Es war Michael Hanekes Bennys Video über den kaltblütigen Mord eines Schülers an einer Freundin, deren Todeskampf er mit seiner Videokamera festhält. Der Film löste eine Welle an Diskussionen, nicht nur positiven, aus.
Seither bin ich immer mit Vorsicht an Hanekes Filme herangegangen. So eigentlich auch an Das weisse Band, der mir allerdings wärmstens als einer der besten Filme Hanekes und der letzten Zeit empfohlen wurde. Nun sind solche Aussagen, je nachdem von wem sie stammen, mehr oder weniger zu gewichten. So habe ich also den Tag bewusst ausgewählt, an dem ich an ein vielleicht wiederum schwer verdauliches Haneke Werk heran ging.
Und ich war begeistert.
Das weisse Band ist ein vorzüglicher, tiefgehender und bewusst viele Fragen offen lassender Film über eine Zeit auf dem Lande, wie sie für unsereins heute kaum mehr vorstellbar ist. Selbst Erzählungen von Grosseltern beinhalten meist ein Gefühl wohliger Nostalgie. Nicht so Das weisse Band. Zucht und Ordnung. Strenge und Glauben. Gehorsam und Strafe. Neid und Ausnutzung.
Ein Dorf auf dem Lande im Norden Deutschlands, ein Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Der Dorfarzt wird während eines Ausritts durch ein gespanntes Seil von seinem Pferd geholt und schwer verletzt. Wenig später stirbt eine Bäuerin durch einen Unfall im Sägewerk des wohlhabenden Gutsbesitzers. Ein Bauerssohn mäht mit seiner Sense die Kohlköpfe des Barons ab. Dessen junger Sohn wird misshandelt aufgefunden.
Nur bruchstückweise lässt Haneke einblicken, wer für die Taten verantwortlich sein könnte. Wir werden es nie wissen (mit Ausnahme des Kohlkopftäters). Tiefere Einblicke lässt er ins Leben der Dorfbewohner zu. In den vielköpfigen Haushalt eines unmenschlich strengen Pastoren, der seine Kinder mehr leiden denn leben lässt; hinter die Fassaden eines gutbetuchten Grundbesitzers; in den Alltag eines jungen Lehrers oder in die eiskale Beziehung des Arztes zu seiner Aufwartefrau. Haneke beschwört eine Paranoia in einem nur scheinbar geruhsames Dorfleben herauf, das mehr und mehr aus den Fugen gerät. Die “deutsche Kindergeschichte”, wie im Untertitel beschrieben, ist also alles andere als eine kindgerechte Erzählung. Sie ist eine Erinnerung mit vielen Schmerzen. Das weisse Band ist ein Film, der durch Mark und Bein geht.
Während den fast 140 Minuten hält Haneke den Zuseher in dermassen im Bann, das einem manchmal der Atem stockt. Nicht weil Haneke etwa grausige Bilder zeigen würde, worauf er fast gänzlich verzichtet, sondern weil er mit der Stimmung, den Geschehnissen und dem so pur Menschlichen erschreckt, nur durch das Erleben des Lehrers manchmal etwas Wärme hineinbringend.
Bemerkenswert nebst der unglaublich vielschichtigen Erzählung sind die Kameraarbeit und die Darsteller. Die Kamera wurde wie der Film (in der Kategorie “bester fremdsprachiger Film”) ebenfalls für einen Oscar nominiert. Gedreht wurde digital und ursprünglich in Farbe, was bei der Nachbearbeitung von Vorteil gewesen sein soll (entfernen von modernen Gebäuden, Strommasten etc.).
Schauspielerisch ist der Film überragend. Angefangen von den grossartig spielenden Kinderdarstellern bis zu dem von mir sehr geschätzten Ulrich Tukur (empfehlenswert auch sein Spiel als Kunsthändler im wenig bekannten Film Séraphine).
Musikalisch ist hier nichts zu holen. Haneke überlässt den Film ganz der Atmosphäre der Bilder, nur hie und da sind Klänge einer Orgel zu hören, die der Lehrer spielt oder es singt ein ach so unschuldiger Kinderchor ein Lied.
Die DVD bringt die Bilder übrigens blitzsauber und gestochen scharf auf TV oder Heimleinwand, ein wahres optisches Vergnügen.
Phil, 23.3.2010
DAS WEISSE BAND Regie: Michael Haneke Darsteller: Christian Friedel, Burghart Klaussner, Susanne Lothar, Ulrich Tukur u.a. Verleih: Warner, 2-Disc Special Edition