David Raksin at M-G-M

Als Liebhaber der Musik von David Raksin musste man sich bis anhin in Genügsamkeit üben, denn die mageren Absatzzahlen seiner wenigen veröffentlichten Scores waren für Plattenbosse kaum ermutigend, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen. So bemerkenswert dieser Komponist auch ist, stösst er doch im allgemeinen auf wenig Interesse. Schwer zu sagen, woran das liegt, aber vielleicht wird er einerseits von vielen wegen seines Überthemas zu Laura, mit dem er oft in einem Atemzug genannt wird, als eine Art «One-Hit-Wonder» betrachtet, anderseits ist sein Werkverzeichnis gespickt mit etlichen ungeläufigen Filmen, und «was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht» gilt zweifellos auch für viele Filmmusiksammler.

Selbst gestandene Cineasten werden deshalb beim Blick auf die Inhaltsangabe der hier zu besprechenden Box erst einmal die Stirn runzeln. Gut, Across The Wide Missouri dürfte man kennen, der läuft ab und zu im hiesigen Fernsehen, ebenso Pat And Mike mit Katharine Hepburn und Spencer Tracy. Aber Hand aufs Herz, wer hat je von Kind Lady, The Vintage oder Until They Sail gehört?

Dass mit separaten Veröffentlichungen solcher Sachen kein Staat zu machen ist (die Ausnahme wäre Across The Wide Missouri gewesen – Westernmusik geht immer), weiss natürlich auch Lukas Kendall, wie sollte es auch, wenn schon namhafte Raksins wie Forever Amber, The Bad And The Beautiful und Two Weeks In Another Town wie Blei in den Regalen lagen bzw. liegen? Also griff er zur einzig praktikablen Möglichkeit, Obskuritäten wie oben genannte publik zu machen. Er schnürte eine stattliche Anzahl Raksin-Scores zu einem preislich relativ günstigen, auf 1500 Stück limitiertes Gesamtpaket. Dieses Konzept hatte schon bei seinen beiden Westernboxen sowie bei der «MGM Soundtrack Treasury» hervorragend funktioniert, aber während diese ziemlich schnell ausverkauft waren, gibt es bei dieser nun doch schon einige Zeit erhältlichen Edition noch keinerlei Hinweise darauf, dass Raksin ob dem wahrlich verlockenden Angebot urplötzlich zum begehrten Sammler- und Spekulationsobjekt geworden wäre.

Dabei kann sich die Box wahrlich sehen und hören lassen. Man merkt anhand von vielen kleinen Details, dass sie für das FSM-Produktionsteam eine Herzensangelegenheit war und für Kendall möglicherweise nicht nur ein Geschenk an den kleinen Kreis der Raksin-Bewunderer, sondern auch an sich selbst. Er verwöhnt uns mit 13 Erstveröffentlichungen von Scores, die Raksin zwischen 1950 und 1957 für MGM schrieb, acht davon sind komplett. Zwar konnte nur ein einziger kurzer Track in Stereo aufgefunden werden, aber die Klangrestauration hat aus den betagten Mono-Tonspuren das Maximum herausgeholt.

Der 1912 in Philadelphia geborene und im schwarzen Sommer 2004 verstorbene David Raksin darf mit Fug und Recht als einer der frühen bedeutenden amerikanischen Filmkomponisten bezeichnet werden. Wie etwa sein Kumpel Hugo Friedhofer schickte er sich an, den durch die aus Europa immigrierten Kollegen in Hollywood etablierten, schwelgerisch-romantischen Orchesterklang zwar nicht gänzlich zu ignorieren, aber doch deutlich zu entschlacken und vor allem das kulturelle Bewusstsein seiner Heimat stärker in die Musik einzubinden und hervorzuheben, und ebenso wie Friedhofer tat er dies auf sehr elegante Art und Weise.
Davon legt die Box nun bestens Zeugnis ab und lädt ein zu einer aufregenden Entdeckungsreise durch das noch wenig erforschte Schaffen Raksins, und weil einem das in diesem Umfang bisher verwehrt blieb, wird man sich erst jetzt so richtig bewusst, was für ein vielseitiger und dabei stets stilsicherer Komponist er war. Dass nicht jede der präsentierten Musiken ein Meisterwerk sein kann, wird niemanden überraschen, aber das allgemeine Niveau ist schon sehr hoch. Die fünf CD’s sind sinnvollerweise nach Genres geordnet.

CD 1: Western

Across The Wide Missouri ist für sein Entstehungsjahr 1951 ein schon recht fortschrittlicher Westernscore. Geschickt verbindet Raksin hier das Traditionelle mit dem Modernen, ersteres zeigt sich in der Verwendung des lüpfigen Volksliedes «Skip To My Lou», das die rustikale Liebesbeziehung zwischen dem von Clark Gable verkörperten Trapper Flint Mitchell und einem Indianermädchen pointiert charakterisiert, und dem allseits bekannten «Shenandoah», das in stimmungsvollen Bearbeitungen die grossartigen Landschaftsaufnahmen Colorados unterlegt. Aber Raksin hat natürlich auch ein paar eigene, uramerikanische Themen in petto.
Bei der Indianermusik löst sich Raksin zwar nicht vollständig von den damaligen Konventionen, geht aber deutlich einen Schritt weiter in Richtung menschlicherer und gefühlvollerer Ethnik, und deren Verbindung mit Americana deutet die langsame Blutsvermischung an. In dramatischen Passagen wie Jagdszenen oder der Bezwingung eines schneebedeckten Passes zeigt sich Raksins Affinität zum Modernen, das gar nicht so weit von einem Alex North entfernt ist.
Insgesamt handelt es sich bei Across The Wide Missouri um einen wirkungsvollen, gut ausbalancierten Score, der jeder Westernmusiksammlung bestens ansteht. Eine grosszügige Auswahl an alternativen Cues (die letztlich teilweise für den Film verwendet wurden) runden die erste Scheibe ab.

CD 2: Thriller

Die Musik für den zur Weihnachtszeit spielenden Psychotriller Kind Lady beginnt lieblich mit einem umgestalteten «Joy To The World» und dem Thema für die reiche, ältere Lady Mary Herries im Main Title,steigt dann aber schon bald die Treppe des Unbehagens hinab. Dabei spielen sich die Instrumentengruppen fortlaufend gegenseitig den bösen Buben zu, bevor sie dann gemeinsam zum unerbittlichen Finale dieser gut gemachten, unterschwelligen Thrillermusik ansetzen. Der Klang von Kind Lady wird von Bandrauschen beeinträchtigt; das wirkt jedoch nur bei leisen Passagen ein wenig störend.

The Man With A Cloak gehört zu den Höhepunkten der Box. Raksin ist der erste Filmkomponist, der sich hier der Zwölftonmusik bedient, wenn auch nur bei einem einzigen Thema, gleich zu Beginn vorangestellt dem exzellenten dunkel-romantischen Hauptthema.
Was diesen Score indes so einzigartig macht, sind die intensiven Klangfarben, die Raksin aus einem kleinen Orchester, bestehend aus sieben Holzbläsern, drei Blechbläsern, einem Schlagzeuger und einer sirenenhaften Viola d’Amore (das Ensemble erhält nur bei dramatischen Höhepunkten Verstärkung) herausdestilliert. Eine ebenso eigenwillige wie faszinierende Herangehensweise, der unerklärbaren Verlockung des Bösen Stimme zu verleihen.

CD 3: Biopic

The Girl In White handelt von Emily Dunning (June Allyson), die im New York der Jahrhundertwende als erste Ärztin chirurgisch tätig war. Entgegen dem Sujet tritt die Dramatik in den Hintergrund; Raksins Musik ist zumeist locker-leicht, und insbesondere das beschwingte Hauptthema mit liedhaftem Charakter sowie ein paar sentimentale Passagen erinnern recht stark an Max Steiner. Insgesamt ein charmanter, eingängiger Score, jedoch ohne sonderlich viel Tiefgang.

Louis Calhern spielt in The Magnificent Yankee Franklin Roosevelts Generalbundesanwalt Oliver Wendell Holmes. Das Hauptthema lässt mich in seinem noblen Auftritt im Main Title zwar eher an England als an Amerika denken, aber die Musik wechselt dann idiommässig schnell zur richtigen Nation. Eine dem Hauptcharakter angemessene Feierlichkeit, verspielte und kammermusikalische Intermezzi sowie sinnvoll platzierte Bearbeitungen von Liedern wie «The Battle Hymn Of The Republic», «Auld Lang Syne» und «Gaudeamus Igitur» (zuletzt auch von John Williams in Indy IV verwendet) machen diesen Score zu einem Ohrenschmaus.

Dass auch kurze, im Wesentlichen auf Main- und End-Titles reduzierte Scores nicht blosse CD-Füller sind, zeigt sich beispielsweise bei The Next Voice You Hear mit seinen zu Herzen gehenden, kirchlichen Klängen oder bei Right Cross, dessen Energiebündel von Hauptthema sowohl für New York City als auch für das dort angesiedelte Boxkampfdrama passt wie die Faust aufs Auge.

CD 4: Drama

Für einen weiteren Höhepunkt dieser Sammlung sorgt die Musik zum auf einem französischen Weingut spielenden Drama The Vintage. Grape Stomp – Main Title mit dem exaltierten Vitage Theme und dem lebensbejahenden, auf komplexen Taktwechseln aufgebauten Harvest Theme – zweifellos dem Zerstampfen von Trauben nachempfunden – saugen den Hörer sogleich ein ins musikalische Geschehen. In dessen Zentrum steht das delikate Liebesthema für Lucienne (Pier Angeli) und Giancarlo (Mel Ferrer), zart und leicht barock dargebracht meist von Gitarre und Flöten. Lucienne erhält im Übrigen auch ein eigenes Thema in Form eines grazilen Walzers.
The Vintage ist ein Paradebeispiel Raksin’scher Orchestrierkunst. Vom massiven Klang mit fanfareartigem Blech über Holzbläser jeglichen Timbres bis hin zu gefühlvollen Streichern in diversen Stärkeklassen und ein wenig Folklore – hier stimmt punkto Verarbeitung und dramatischer Feinabstimmung einfach alles. Oder um es in der Winzersprache zu sagen: Dieser Score ist vollmundig, reich an Geschmacksnuancen und lang im Abgang.

CD 5: Romance

Nach einem Roman von James Mitchener entstand der während des Zweiten Weltkriegs auf Neuseeland spielende Until They Sail. In typischer 50er-Jahre-Manier kommt im Main Title eine Vokalistin zum Einsatz; der mir unbekannten Eydie Gormé steht ein Pfeifer als Begleiter zur Seite. Das dem Song zu Grunde liegende Thema ist der romantische Dreh- und Angelpunkt des Scores, oft in den Streichern zu hören und ab und zu swingend im Stil von Glenn Miller vorgetragen. Erst gegen Ende kommt noch etwas militärische Dramatik mit ins Spiel. Davon abgesehen ist dies mit Ausnahmen wie beispielsweise Bachiana Balloneira (eine Referenz an den brasilianischen Komponisten Villa-Lobos) eine ziemlich hauptthemalastige Angelegenheit, die aber dank Raksins stilvoller Hand trotzdem nicht allzu einseitig wird.

Pat And Mike ist einer der zahlreichen gemeinsamen Leinwandauftritte von Katharine Hepburn und Spencer Tracy. Der nur knapp 12-minütige Score zu dieser romantischen Komödie erweist sich als genretypisch; temperamentvoll, Champagnerlaune verbreitend und auf bewährte Techniken des mickey mousing wie Posaunenglissandi usw. setzend. Wenn auch dank der Kürze recht geniessbar, ist das nichts, was man in einer Endlosschlaufe hören möchte.

Würde diese Box nur Across The Wide Missouri, The Man With A Cloak und The Vintage enthalten, wäre sie für mich schon ihr Geld wert. Aber auch ein grosser Teil des Restes muss sich nicht weit dahinter verstecken und festigt den guten Eindruck, den ich von Raksin bisher schon hatte. Als Minuspunkt könnte ich anbringen, dass die leidige FSM-Praxis, bei grösseren Produktionen die ausführlichen Linernotes nur online zur Verfügung zu stellen, hier fortgesetzt wird, aber das mitgelieferte, reich bebilderte Booklet dürfte trotzdem noch so manchem Kollegen Kendalls die Schamesröte ins Gesicht treiben. Etwas unpraktisch ist die mehrfach aufklappbare Plastikbox, die sehr anfällig für Beschädigungen ist; bei mir ist sie jedenfalls schon bei ihrer Ankunft nicht mehr unversehrt gewesen. Aber das lässt sich angesichts des Inhalts verschmerzen.

Lukas Kendall ist vielleicht geschäftlich nicht so ausgebufft wie mancher seiner Kollegen, aber sein Herz schlägt mehr noch als bei den anderen auch für Sammler-Minderheiten, und alleine schon deswegen kann es nur die Höchstnote für David Raksin at M-G-M geben.

Andi, 3.4.2009

 

DAVID RAKSIN AT M-G-M

David Raksin

Film Score Monthly Vol. 12, No. 2

CD 1: 73:52 Mi. / 26 Tracks
CD 2: 72:03 Mi. / 28 Tracks
CD 3: 74:37 Mi. / 31 Tracks
CD 4: 75:30 Mi. / 34 Tracks
CD 5: 76:36 Mi. / 37 Tracks