Review aus The Film Music Journal No. 28, 2002
Nehmen wir an, ein Sammler mit großem Interesse an Originalaufnahmen älterer Filmmusik besäße keinen Computer und keine Soundtrackmagazine. Was würde er kaufen? Selbst die hierzulande produzierten Tickertape-CDs erscheinen zum Großteil nicht in den offiziellen Bestelllisten. Um an die speziellen Serien von BYU, FSM oder Prometheus zu gelangen, bedürfte es zumindest des Wissens um die Spezialgeschäfte in Hamburg usw. Sogar dort ist aber Endstation, was die neue Reihe „Rhino Handmade» anbelangt. Das Label Rhino produziert Musicals, Jazz, ab und an Filmscores, unterhält daneben aber auch eine Serie mit limitierten Aufnahmen, die im Direktversand über die Internetseite www.rhinohandmade.com vertrieben werden. So werden Kompositionen zugänglich gemacht, deren Produktion sich auf offiziellem Weg mangels Kundschaft nicht lohnen würde.
Rhino handmade-CDs sehen im Prinzip so aus wie die anderen Produkte des Labels auch: goldener CD-Rücken, farbiges, reichbebildertes Cover, dazu aber eine individuelle Auflagennummer an einer Seite. Zunächst wird also die bislang nicht üppige Film-Diskographie des Weltbürgers André Previn aufgemöbelt, der als Opernkomponist, Dirigent und Pianist seit Jahrzehnten zur Spitzenklasse gehört, als Hollywoodmusiker hingegen schon lange den Griffel zur Seite gelegt hat. In den vierziger bis frühen sechziger Jahren bereicherte er das MGM-Team um Rózsa, Green und Kaper, wobei er sich rasch als Spezialist für zeitgenössische Dramen profilierte, bei Bedarf aber auch Western wie THE FASTEST GUN ALIVE musikalisch auf Trab brachte. Von diesem gelungenen Score hätten durchaus noch einige Tracks auf Volume 2 der Previn-Reihe Platz gefunden.
Rhino hat es sich nicht nehmen lassen, als Premiere eines der meistgesuchten Werke Previns herauszubringen: THE 4 HORSEMEN OF THE APOCALYPSE (1961). Hinter dem martialischen Titel verbirgt sich nicht etwa ein Bibelfilm, sondern ein im 2. Weltkrieg spielendes, melodramatisch überhöhtes Geschehen nach einem spanischen Roman. Vor vielen Jahren gab es eine LP, die als Widerspiegelung der wichtigsten Elemente zu befriedigen wußte. Nun verwöhnt Rhino den Hörer mit einer prachtvoll durchgestylten und remasterten Langfassung, die eigentlich jeden Filmmusikfan beglücken sollte. Oder etwa nicht?
Tatsächlich wirkt die CD stilistisch sehr uneinheitlich; eine Konsequenz des Bemühens, die korrekte Cue-Folge zu übernehmen. Also wird man gleich nach Ouvertüre und «Main Title» in eine Tanzsequenz hineingeworfen, die ihre narrative Berechtigung haben mag, aber doch nicht ganz das ist, was man hören möchte. Zweifellos komponiert Previn faszinierende Tänze – der Anfang von «Paris» befreundet die Walzer von Ravel und Rózsa – aber vielleicht wäre es besser gewesen, sie ans Ende zu platzieren. So bleibt dem Hörer nichts anderes übrig, als die CD so gut kennen zu lernen, daß er seine eigene Suite zusammenstellt. In unserem Internet-Diskussionsforum «Scoresheet» haben wir vor einigen Monaten über die Erfahrung diskutiert, heutzutage oft nur noch wenig Zeit mit den angeschafften CDs zu verbringen, damit aber auch nicht all ihre Winkel auszuleuchten.
Im Fall von THE 4 HORSEMEN OF THE APOCALYPSE sollte man sich diese Zeit unbedingt nehmen, denn die dramatischen und lyrischen Anteile der Komposition stehen auf einem so hohen Niveau, daß diese Beharrlichkeitsich auszahlt. Previns Musik wartet mit einer Fülle von Haupt- und Nebenthemen auf, zum Teil schon in den ersten Stücken vorgestellt, bisweilen aber auch nur vereinzelt eingesetzt. Höre man etwa «I’m neutral», eine von vibrierenden Streichern vorgetragene Romanze aus dem Zentrum der Partitur. Einen anderen Tonfall schlägt der Beginn ein, für dessen Stereopräsentation mit alternierenden Stimmen man dankbar ist. Derbe Tuttischläge, dann agitierte Streicherfiguren, dazwischenfahrende Donnerschläge, aufgeregte rhythmische Ostinati und dissonante Blechakkorde formen einen Auftakt, den die Amerikaner «high octane» nennen würden. Als zweiten Einfall flicht Previn eine Solovioline in das Streicherthema ein, melodisch ebenfalls im Dialog mit Rózsas tönenden Vor-Bildern. Im Ganzen überwiegt jedoch die Verbundenheit mit der amerikanischen Orchestertradition und deren harmonischen Freiheiten inmitten eines tonalen Ambientes.
THE 4 HORSEMEN OF THE APOCALYPSE, ein meisterhaftes Bindeglied zwischen den amerikanischer Film- und Konzertmusik, fordert einen aktiven Hörer und ist – dann – eine der schönsten Wiederentdeckungen des Jahres. Die Bewertung ignoriert daher auch die anfänglichen Reserven, die durch das Sequencing hervorgerufen werden.
Fast noch mehr dürfte man sich auf die zweite CD mit ihrer Fülle von Erstveröffentlichungen freuen. Am Beginn steht Previns nur 23 Minuten umfassender Score zu dem immer noch ungemildert spannenden Thriller BAD DAY AT BLACK ROCK (1954). Als einarmiger Fremder reist Spencer Tracy mit dem Expreßzug in ein kleines Westernnest, um einen japanischen Freund zu besuchen, der jedoch im Krieg von den Bewohnern des Örtchens umgebracht worden ist. Nun ist auch der um Aufklärung bemühte Fremde seines Lebens nicht mehr sicher.
Erneut hat Previn einen grellen, vorwärtspreschenden «Main Title» zu bieten, früher Höhepunkt der CD. Während der Zug auf Black Rock zufährt, erklingt jedoch nicht allein dieses dynamische Moment, sondern auch eine beunruhigend rhythmisierte Bläsermelodie, die danach mehrfach aufgegriffen und variiert wird, so daß sich Identität und Nichtidentität des Einfalls im Widerstreit befinden, den Hörer leiten, aber auch verleiten. Das thematische Material ist in diesem Score nicht von primärer Attraktivität, entfaltet seine Wirksamkeit also erst in wechselnden Kontexten. Das macht die CD also zu einer Höraufgabe, die im titelgebenden Score durchaus belohnt wird, zumal die Stereoqualität hier wirklich bestechend zu nennen ist.
Als er die Musik zu BAD DAY AT BLACK ROCK schrieb, war Previn erst 25 Jahre und schon ein Routinier. Doch war er bereits als Neunzehnjähriger von MGM mit Aufträgen bedacht worden, und drei seiner frühesten Arbeiten sind hier ergänzend aufgenommen, ebenfalls Krimis der Jahrhundertmitte, freilich nicht auf dem Niveau des Sturges-Klassikers. Es war eine Phase, in der Hollywood sich zunehmend von den Studiosettings entfernte und gern mit «dokumentarischen» Elementen arbeitete, dabei den Musikanteil häufig auf ein Minimum begrenzte. Der Vorspann zu TENSION ist schon vorüber, noch ehe er richtig angefangen hat. Dann folgen jazzig-erotische Einlagen, die Previn schon bestens beherrschte, für die man aber ein Faible mitbringen muß. Das schwelgerischste Stück ist allerdings «Love at the Beach» mit seinen Streicherfächern, und auch den in kürzester Zeit eregierenden «End Title» sollte man nicht verpassen.
Ein Highlight in Previns Schaffen ist der heroische Marsch zu Beginn von SCENE OF THE CRIME, in dem es ansonsten recht wenig Musik gibt, was dem Van Johnson-Krimi nicht durchwegs bekommt. Tanzmusikstücke füllen die übrige Spielzeit.
Es folgt eine Suite aus dem diabolischen Thriller CAUSE FOR ALARM, in welchem ein todkranker, vor Eifersucht rasender Ehemann vor seinem Ableben einen Brief formuliert, in dem er seine Frau des Mordes beschuldigt. Was sie aber erst erfährt, nachdem sie den Brief weitgeleitet hat. Die weitere Handlung kann sich nun jeder vorstellen. Previn schreibt für den dialoglastigen Film eine Reihe hochexpressiver, aber weitgehend als emotionale Hülle benötigte Stücke, die man gern einmal hört, ohne freilich so gefesselt zu sein wie in Previns besten Werken. Einige Abschnitte, etwa Track 28, faszinieren ob ihrer krassen Klangkombinationen, die sich hinter Bernard Herrmanns Expertisen nicht verstecken müssen.
Trotzdem: Dieses zweite Volumen mit seinen sehr kurzen Stücken und variabler Klangqualität bleibt, auch hinsichtlich des Booklet-Niveaus, insgesamt uneinheitlich und ist eher etwas für den konsequenten Sammler der besagten historischen Phase oder des Gesamtwerks von André Previn.
Matthias | 2002
THE 4 HORSEMEN OF THE APOCALYPSE
André Previn
Rhino
77:14 | 33 Tracks
BAD DAY AT BLACK ROCK
André Previn
Rhino
51:52 | 33 Tracks